Newsletter FRI 2024#2 - Editorial
Liebe Leser*innen
Klimaurteil
In einem Urteil der Grossen Kammer vom 9. April 2024 (zusammengefasst und kommentiert in einem Gastbeitrag von RA Dr. Raphaël Mahaim in diesem Newsletter) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden «der Gerichtshof») zum ersten Mal fest, dass ein Staat gegen Artikel 8 EMRK verstossen hat, weil sein gesetzlicher Rahmen zur Verringerung seiner Treibhausgasemissionen unzureichend war.
Der Gerichtshof hat zwar die beschwerdeführenden Mitglieder des Vereins als solche nicht als Opfer im Sinne von Artikel 34 EMRK betrachtet, weil ihnen aus seiner Sicht ein persönliches und begründetes Schutzbedürfnis fehlte (§§ 527-535). Er hat aber die internationalen Erkenntnisse über die besondere Verwundbarkeit älterer Frauen gegenüber dem Klimawandel anerkannt (§§ 510, 529-530) und festgestellt, dass der Verein KlimaSeniorinnen «wirklich repräsentativ und befugt ist, im Namen von Personen zu handeln, die in vertretbarer Weise geltend machen können, dass ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität, wie sie durch die Konvention geschützt sind, spezifischen Bedrohungen oder schädlichen Folgen im Zusammenhang mit dem Klimawandel ausgesetzt sind» (§ 524). Damit hat er seine Beschwerdelegitimation anerkannt (§§ 521-526; vgl. auch §§ 622-623). Die Rüge der Verletzung von Art. 8 EMRK hat sich als begründet erwiesen (vgl. §§ 558-574). In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 6 § 1 EMRK festgestellt (§§ 629-640).
Die besondere Verwundbarkeit älterer Frauen durch den Klimawandel macht diese Krise zu einer geschlechtsspezifischen Frage und einem intersektionalen Problem (vgl. mehrere Beiträge von Dr. Angela Hefti zur Intersektionalität bei internationalen menschenrechtsbasierten Klimaprozessen, zusammengefasst in unserem Newsletter). Auf globaler Ebene wird diese Verletzlichkeit in internationalen Berichten unter anderem wie folgt erklärt. Die Sterblichkeitsrate und Gesundheitsprobleme älterer Menschen, die durch Hitzespitzen verschärft werden, sind höher als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Insbesondere sind ältere Menschen anfälliger für Dehydrierung. Aufgrund ihrer oftmals prekären finanziellen Situation sind sie gegenüber Preissteigerungen der Lebensmittel empfindlicher. In Notsituationen ist ihre Mobilität eingeschränkt. Sie haben zudem mehr Schwierigkeiten, ihre Ansprüche geltend zu machen. Die Mehrheit der älteren Menschen sind nun Frauen, was für sie einen erhöhten Bedarf an Gesundheitsleistungen mit sich bringt. Ältere Frauen sind zudem aufgrund der Ungleichheiten, die sie als Frauen erfahren, in einer noch schlechteren Position, weil ihr Zugang zu Ressourcen aller Art (Wasser, Nahrung, Gesundheitsfürsorge, sichere und gesunde Unterkünfte, Bildung, Finanzkredite und Technologie) und damit ihre Fähigkeit, sich an die globale Erwärmung anzupassen, eingeschränkter ist. Da sie in vielen Ländern für den Anbau und die Ernte zuständig sind, kann ihre Belastung durch die Erwärmung noch grösser werden. Sie sind auch Misshandlungen ausgesetzt, wenn sie auf Pflege angewiesen sind, und diese können sich in Notsituationen nach einer Naturkatastrophe noch verstärken. Ihre familiären Verpflichtungen, ihre geringen Mittel und die bestehenden Regeln können sie im Fall einer solchen Katastrophe daran hindern, ihre Region zu verlassen. Schliesslich sind sie im Fall einer Migration aufgrund der Klimaerwärmung dem Risiko von Diskriminierung, sexistischer Gewalt und Menschenhandel ausgesetzt (Bericht A/76/157 vom 16. Juli 2021 der Unabhängigen Expertin für den Genuss aller Menschenrechte durch ältere Menschen, §§5, 11, 17-35, 44, 49 et 58-59 und 61; Bericht vom 30. April 2021 des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, §§ 5, 9, 11, 13, 15, 21, 23, 25, 29 und 35; und allgemeine Empfehlung Nr. 37 des CEDAW vom 13. Februar 2018, §§ 3-5, 55, 61-63, 69-70 und 75-76).
Im § 8 der Erklärung über Menschenrechte und Klimawandel vom 14. Mai 2020 haben mehrere UN-Ausschüsse betont, dass Frauen und andere Personen, die durch den Klimawandel stärker gefährdet sind, nicht nur als Opfer, sondern auch «als Agenten des Wandels und wesentliche Partner in lokalen, nationalen und internationalen Initiativen gegen den Klimawandel» gesehen werden sollten (siehe auch die oben erwähnten Beiträge von Dr. Angela Hefti und den ebenfalls in unserem Newsletter zusammengefassten Gender Equality Report der Europäischen Commission, S. 54).
Unsere Seniorinnen haben es bewiesen. Sie haben sich nicht mit dem Schicksal abgefunden und erfolgreich alle Hürden überwunden, um die Anerkennung der Versäumnisse der Schweiz im Kampf gegen die Klimaerwärmung zu erreichen. Dieser Sieg ist für uns eine Quelle der Freude und des Stolzes. Wie ein Leuchtturm gibt er den Menschen in 46 europäischen Staaten die Gewissheit, dass sie über eine gemeinsame Rechtsgrundlage verfügen, um die Verletzung der Verpflichtungen ihrer jeweiligen Staaten in Bezug auf den Klimawandel geltend zu machen und wirksame Massnahmen zur Bewältigung des Klimawandels zu fordern.
Für die Redaktion:
Alexandre Fraikin (verantwortlicher Redaktor), Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer und Rosemarie Weibel unter Mitarbeit von Rebecca Rohm
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Gender Law Newsletter FRI 2024#2, 01.06.2024 - Newsletter abonnieren