Genderlaw Newsletter 2024#3 - Editorial

Liebe Leser*innen 

Gewalt gegen Frauen hat viele Formen: Frauenhandel, Feminizid (vgl. Newsletter 2024#2), Folter, Vergewaltigung, Nötigung, sexuelle Übergriffe, Schläge, Freiheitsberaubung, Demütigungen, Entbehrungen, Kontrolle, Drohungen, (Cyber-)Belästigung, Aufruf zu Hass, Beleidigungen, psychischer Druck, einschliesslich Selbstmorddrohungen (vgl. Urteil des BGer 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024, kommentiert in unserem Newsletter) und viele andere. Gewalt gegen Frauen ist, wie es in der Präambel der Istanbul-Konvention steht, «der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern [...], die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben». Sie stellt somit die Spitze des Eisbergs dieser Beherrschung  in ihrer brutalsten, eklatantesten und unerträglichsten Form dar. Sie aufzubrechen muss daher eine Priorität sein.

Dennoch ist die Zahl der von der Schweizer Polizei registrierten Straftaten im häuslichen Bereich, die von 2009 bis 2023 von der Schweizer Polizei registriert wurde, von 16'055 auf 19'918 gestiegen. Dasselbe gilt für sexualisierte Gewalt im Allgemeinen: diesbezüglich sind die registrierten Straftaten im selben Zeitraum von 4894 auf 5090 angestiegen  (insbesondere Vergewaltigung: von 666 im Jahr 2009 auf 839 im Jahr 2023; und sexuelle Nötigung: von 617 auf 676). Ein am 14. Juni 2024 eingereichtes Postulat, das in unserem Newsletter zusammengefasst wird, will prüfen lassen, ob Feminizide Gegenstand einer offiziellen Statistik sein können. Immerhin wurden sowohl 2009 als auch 2023 je 25 Tötungsdelikte im häuslichen Bereich registriert, davon im Jahr 2023 zwanzig an weiblichen Personen. Diese registrierten Gewalttaten sind jedoch nur die Spitze der Spitze des Eisbergs der Dominanz über Frauen. Es gibt verschiedene Gründe, die ein Opfer häuslicher Gewalt dazu bewegen können, bei seinem Peiniger zu bleiben, darunter Angst vor Vergeltung, emotionale Bindung, finanzielle Abhängigkeit, Abhängigkeit in Bezug auf den Aufenthaltstitel (zu diesem Thema, vgl. Newsletters 2022#1, Editorial und Bericht zu einer Veranstaltung vom 1. Dezember 2021), andere Situationen der Verletzlichkeit, Scham und Angst vor dem Unbekannten (vgl. Staat Freibourg, Interventionsprotokoll für Fachpersonen im Kanton Freiburg, S. 13). Dies kann die Geschädigte dazu veranlassen, ihre Situation nicht anzuzeigen.  Die Art und Weise, wie der Fall behandelt wird, und insbesondere das Risiko einer sekundären Viktimisierung in allen Phasen des Verfahrens (bis zum Urteil: vgl. z.B. Newsletter 2021#3), kann sie ebenfalls entmutigen.

Um diese Gewalt zu bekämpfen, muss sie zumindest in der Gesetzgebung unter Strafe gestellt werden. Das Inkrafttreten von Gesetzen in der Schweiz und in der Europäischen Union bringt in dieser Hinsicht eine positive Entwicklung.
Die neuen Bestimmungen des Schweizer Sexualstrafrechts, die am 1. Juli 2024 in Kraft getreten sind und in unserem Newsletter zusammengefasst werden, bestrafen nämlich nun unter anderem Täter*innen, die sexuelle Handlungen vornehmen, die auch nur implizit und unabhängig vom vorliegen einer Nötigung  verweigert werden oder die unter Ausnutzung eines «Schockzustands» des Opfers erfolgen (vgl. Artikel 189 Abs. 1 und 190 des Strafgesetzbuchs). Die tonische Immobilität hindert nämlich das Opfer daran, zu reagieren oder zu protestieren. Diese Situation ist Gegenstand einer interdisziplinären Analyse, die in unserem Newsletter zusammengefasst wird. Natürlich hätte die Reform die sexuelle Handlung auch einem Zustimmungserfordernis unterwerfen können (nur «ja» heisst «ja»), aber sie ist ein bemerkenswerter Schritt nach vorn.
Die neue Richtlinie 2024/1345/EU zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die am 13. Juni 2024 in Kraft getreten ist und in unserem Newsletter kommentiert wird, verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten darüber hinaus, verschiedene Formen von Gewalt, einschliesslich Cybergewalt, unter Strafe zu stellen (Art. 3–8). Sie verfolgt einen intersektionalen Ansatz (Erwägungen 6 und 71) und stellt somit insbesondere klar, dass das Angreifen des Opfers, um es «wegen der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, der Hautfarbe, der Religion, der sozialen Herkunft oder der weltanschaulichen Überzeugung des Opfers zu bestrafen», ein erschwerender Umstand sein muss (Art. 11 Bst. p). Dies deckt sich mit dem Erfordernis der Berücksichtigung diskriminierender Gewaltgründe, das aus Artikel 8 EMRK, in Verbindung mit Artikel 14 der EMRK abgeleitet wird, was in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 11. April 2024, das in unserem Newsletter zusammengefasst wurde, in Erinnerung gerufen wird. Auch wenn die neue Richtlinie 2024/1345/EU keine gemeinsame Definition der Vergewaltigung festgelegt hat, hat die europäische Union bei der Festlegung von Mindestgrundlagen für 27 Mitgliedstaaten Verbesserungen gebracht.

Es reicht natürlich nicht aus, neue Straftatbestände zu schaffen oder ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Die Opfer müssen empfangen, respektiert, informiert, sensibel angehört, orientiert und unterstützt werden, einschliesslich zur raschen Sicherung von Beweisen, und sie müssen geschützt werden. Das Recht muss ohne Stereotypen (vgl. Newsletter 2021#2) oder sekundäre Viktimisierung und mit Sorgfalt angewandt werden, insbesondere unter Berücksichtigung der Umstände, die auf eine fehlende Zustimmung zu sexuellen Handlungen hindeuten können. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 20. Juni 2024 ein Urteil zu diesem letzten Aspekt gefällt, das in unserem Newsletter zusammengefasst ist.
Es ist somit zu begrüssen, dass die neue Richtlinie 2024/1345/EU die Vermittlung von Opfern (Art. 18) an spezialisierte Hilfsdienste zur Information und Unterstützung (Art. 25 Abs. 1) fordert, unabhängig davon, ob sie Anzeige erstatten, sowie an zugängliche Nothilfezentren für Vergewaltigung und sexuelle Gewalt, die Opfer insbesondere bei der Dokumentation und Beweissicherung unterstützen (Art. 26 Abs. 1). Die Richtlinie verlangt eine individuelle Begutachtung des besonderen Hilfsbedarfs der Opfer und angemessene Schutzmassnahmen unter Berücksichtigung möglicher intersektionaler Diskriminierungen (Art. 16, §§1-5). Sie schreibt vor, dass Polizei und Justiz spezielle Schulungen erhalten müssen (Art. 36, §§ 1 und 3). Sie betont die Notwendigkeit, eine sekundäre Viktimisierung zu vermeiden, indem sie u.a. Leitlinien für Strafverfolgungsbehörden zur Vermeidung von Stereotypen vorschlägt (Art. 21 Bst. f und h) und zur Zurückhaltung bei der Anerkennung von Beweisen auffordert, die zu einer sekundären Viktimisierung führen können (Erwägung 48: Kleidung, früheres sexuelles Verhalten usw.). Die Richtlinie verlangt insbesondere auch, dass Personen mit Aufsichtsfunktionen am Arbeitsplatz im öffentlichen wie im privaten Sektor, darin geschult werden, sexuelle Belästigung zu erkennen um diese zu verhindern und angemessen darauf zu reagieren (Art. 36 Abs. 6). Zu den Überlegungen, die der Richtlinie zugrunde liegen, und weiteren Überlegungen mit Bezug auf die Behandlung von Gewaltdelikten gegen Frauen, siehe auch mehrere Beiträge aus Italien in unseren Newslettern 2024#2 und 2023#2.
In diesem Sinne sind auch die folgenden aktuellen Initiativen in der Schweiz zu begrüssen, die in unserem Newsletter erwähnt werden. So fordert eine am 13. Juni 2024 eingereichte Motion, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte verpflichtet werden, Weiterbildungen zu sexueller, häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt zu besuchen, um eine sekundäre Viktimisierung zu verhindern. In diesem Zusammenhang findet am 31. Oktober 2024 in Basel eine Fortbildung zur Reform des Sexualstrafrechts statt und eine Konferenz in Zürich am 6. November 2024 zu diesem Thema konzentriert sich auf die Arbeit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Am 20. September 2024 findet in Bern ausserdem eine Konferenz zum Thema Menschenhandel statt. Eine am 13. Juni 2024 eingereichte Motion zielt auf die Schaffung von Anlauf- und Meldestellen für Menschen mit Behinderungen, die Opfer institutioneller Gewalt geworden sind, während am 19. Juni 2024 eingereichte Postulate sicherstellen sollen, dass Organisationen, die für verletzliche Personen zuständig sind, deren Schutz gewährleisten. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) bietet am 18. September auch ein Webinar über Finanzhilfen für Projekte zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt an.
Auch im Vereinigten Königreich zielt ein Webinar am 3. Oktober 2024 unter anderem darauf ab, die Gründe für die relativ geringe Zahl von Anzeigen, Strafverfolgungen und Verurteilungen von häuslicher Gewalt zu untersuchen und zu erörtern, wie die Opfer dieser Gewalt besser unterstützt und geschützt werden können.

Schliesslich müssen die tieferen Ursachen dieser Gewalt bekämpft werden (Primärprävention). Sie sind der grössere, unter Wasser liegende Teil des Eisbergs. Gemäss der neuen Richtlinie 2024/1345/EU hat Gewalt gegen Frauen «ihre Wurzeln in gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmalen, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht» (Erwägung 10).
Die Ursachen hierfür können in den stereotypen Frauen- und Männerbildern gefunden werden, denen Kinder und Erwachsene in ihrer Erziehung und Ausbildung durch alle Arten von Medien und durch Sprache ausgesetzt sind. Es ist daher zu begrüssen, dass die Richtlinie 2024/1345/EU die Organisation von Bildungs- und Sensibilisierungsprogrammen ab dem frühen Kindesalter vorschreibt, insbesondere zur Beseitigung von Stereotypen und zum Wissen über das Einvernehmen in zwischenmenschlichen Beziehungen (Art. 34 Abs. 2 und 5, Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Rn. 73-75) sowie Massnahmen zur Unterstützung der Schulung von Medienschaffenden, um Stereotypen und Victim Blaming zu vermeiden (Art. 36 Abs. 8; vgl. Newsletter 2024#2).
Die primären Ursachen von Gewalt sind auch in den Regeln zu finden, die geschlechtsspezifische Stereotypen und Diskriminierungen aufrechterhalten. Sie können in der Tat dazu führen, dass Frauen in einem Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden. Ein Gastbeitrag in diesem Newsletter identifiziert genau solche Stereotypen, die in der Schweiz im Arbeitsrecht und in der Gesetzgebung zur elterlichen Verantwortung aufrechterhalten werden. Auch Migrationsregeln können aus Gründen des Aufenthaltstitels einen Zustand der Abhängigkeit eines Opfers von seinem Peiniger schaffen und es davon abhalten, Anzeige zu erstatten (vgl. Newsletter 2022#1). Die am 14. Juni 2024 angenommene Änderung von Artikel 50 des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländer und die Integration versucht, diese Situation zu korrigieren, wie in unserem Newsletter zusammengefasst wird.
Schliesslich sind sexistische und dominante männliche Verhaltensweisen (manterrupting, mansplaining) im Alltag, aber auch vor Gericht (vgl. Newsletter 2017#2) bereits eine Form von Dominanz und Gewalt.

Im Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter existiert also kein kleiner Kampf. Jede Initiative, selbst wenn es um scheinbar nebensächliche oder anekdotische Themen geht, trägt dazu bei, die tiefen Fundamente der unerträglichen Gewalt gegen Frauen aufzubrechen.

Für die Redaktion:
Alexandre Fraikin (verantwortlicher Redaktor), Sandra Hotz, Manuela Hugentobler, Nils Kapferer und Rosemarie Weibel unter Mitarbeit von Rebecca Rohm 


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