Beijing +30: Herausforderungen und Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz
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Gender Law Newsletter FRI 2024#3, 01.09.2024 - Newsletter abonnieren
SCHWEIZ: STELLUNGNAHME ZU EINEM BERICHT DES BUNDESRATS
Stellungnahme der NGO-Koordination post Beijing Schweiz zum Bericht des Bundesrats vom 26. Juni 2024, «Beijing + 30. Umsetzung der Erklärung und des Aktionsplans von Beijing. Bericht der Schweiz»
Die NGO-Koordination post Beijing Schweiz hat in ihrer Stellungnahme zum Bericht «Beijing +30: Umsetzung der Erklärung und des Aktionsplans von Beijing, Bericht der Schweiz» vom Juni 2024 eine umfassende Bewertung der Fortschritte und Herausforderungen bei der Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz vorgenommen. Seit der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing wurden bedeutende Schritte unternommen, dennoch bestehen weiterhin erhebliche Defizite.
Noch immer sind Frauen in der Schweiz überproportional von Armut und Altersarmut betroffen. Dies hat mehrere Ursachen, darunter Lohnungleichheit und die Tatsache, dass Frauen oft in Teilzeit arbeiten, um unbezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit zu leisten. Im Falle einer Scheidung tragen Frauen häufig das finanzielle Risiko allein, was zu niedrigeren Einkommen während der Erwerbszeit und danach zu geringeren Renten führt, insbesondere aus der Pensionskasse. Die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und Behinderung im Schweizer Sozialversicherungssystem muss beseitigt werden, und die Inanspruchnahme von finanzieller Unterstützung (Ergänzungsleistungen) sollte entstigmatisiert werden.Geschlechterstereotype in Schule, Ausbildung und Beruf müssen beseitigt werden. Bereits in der Volksschule ist es notwendig, einen stereotypenfreien Unterricht zu gewährleisten und die Berufswahl auf Fähigkeiten und Interessen zu stützen, anstatt auf Geschlechterrollen. Dies erfordert geeignetes Schulmaterial und geschulte Lehrpersonen. Darüber hinaus ist eine angemessene Vertretung von Frauen in der Forschung essenziell, was die Abschaffung geschlechtsspezifischer Karrierehindernisse bedingt. Der Bundesrat wurde beauftragt, über Massnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in den MINT-Berufen zu berichten. Diese Massnahmen müssen analysiert und in eine spezifische Strategie umgesetzt werden. Nach wie vor ungenügend ist die Vertretung von Frauen in Entscheidungsgremien sowohl in der Politik wie insbesondere in der Wirtschaft. Dies, obwohl insbesondere in den Studiengängen der Rechtswissenschaft, der Medizin oder der Wirtschaftswissenschaften seit mehreren Jahren mindestens ebenso viele, wenn nicht sogar mehr weibliche als männliche Studierende und dementsprechend auch Absolventinnen zu verzeichnen sind.
In der Medizin gibt es zunehmend ein Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Diagnose, dem Verlauf und auch der Behandlung von Symptomen und Krankheiten. So sollten beispielsweise die Auswirkungen von Unfällen und Medikamenten auf Frauen untersucht werden. Geschlechtsspezifische Unterschiede und auf Stereotypen beruhende medizinische Diagnosen und Behandlungen müssen in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung und Ausbildung berücksichtigt und vermittelt werden.
Geschlechtsspezifische Gewalt bleibt in der Schweiz ein grosses Problem. Entscheidend ist die Umsetzung des nationalen Aktionsplans zur Istanbul-Konvention. Auch im digitalen Raum sind Frauen besonders häufig Opfer von Angriffen. Eine frühzeitige Identifizierung von Gewaltopfern sowie Massnahmen zur Unterstützung und zum Schutz der Opfer müssen unabhängig von Tatort und Aufenthaltsstatus gewährleistet sein.
Der nationale Aktionsplan zu «Frauen, Frieden, Sicherheit» muss die Agenden der UNO-Resolution 1325 «Frauen, Frieden, Sicherheit» besser mit der CEDAW verknüpfen. Dies ist entscheidend, um die spezifischen Bedürfnisse und Perspektiven von Frauen in bewaffneten Konflikten zu berücksichtigen und ihre Rolle in Friedensprozessen zu stärken.
Lohngleichheit ist in der Bundesverfassung garantiert und zentral für die Gleichstellung. Arbeitgeber sollten nicht nur gesetzlich verpflichtet sein, Löhne zu analysieren, sondern es sollten auch wirksame Massnahmen zur effektiven Durchsetzung dieser Gleichheit in der Praxis existieren.
Gute, bezahlbare Kinderbetreuung und längere bezahlte Elternzeiten sind unerlässlich. Unbezahlte Hausarbeit, die immer noch überwiegend von Frauen geleistet wird, beeinträchtigt ihre Position auf dem Arbeitsmarkt. Programme, die es Frauen ermöglichen, Beruf und Familie zu vereinbaren, den Wieder-einstieg ins Berufsleben nach einem geburtsbedingten Arbeitsunterbruch zu realisieren und Männer in die familiäre Verantwortung einbinden sind notwendig.
Die finanzielle Unterstützung durch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) sollte nicht zu stark eingeschränkt sein. Auch ausserhalb des Erwerbslebens, wie insbesondere in der Bildung, gibt es gleichstellungsrelevante Projekte, die Unterstützung benötigen.
Die digitale Transformation muss geschlechtergerecht und diskriminierungsfrei gestaltet werden. Die Geschlechterperspektive sollte als Querschnittsthema in die Strategie «Digitale Schweiz» integriert werden.
Strukturelle Hindernisse, die der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern im politischen und öffentlichen Leben entgegenstehen, müssen beseitigt werden. Politiker*innen sollten vor Mobbing, Stalking und Hassreden, auch im digitalen Raum, geschützt werden. Zudem sollte sichergestellt werden, dass mehr Frauen in den Verwaltungs- und Stiftungsräten von Pensionskassen vertreten sind, da diese über erhebliche Vermögen und Leistungen entscheiden.
Die neu gegründete Schweizerische Menschenrechtsinstitution (SMRI) muss unabhängig und ausreichend finanziell ausgestattet sein, um effektiv arbeiten zu können und die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben.
Frauen sind aufgrund mehrfacher, struktureller Diskriminierung Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsheirat, Menschenhandel und Prostitution. Es bedarf einer konsequenten Priorisierung der Menschenrechte sowie eines nationalen Fokus auf Empowerment, Prävention und Opferhilfe.
Gerade in Medien gezeigte Bilder und Geschichten haben einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft. Es ist daher entscheidend, Stereotypen zu verhindern und Vorbilder zu präsentieren. Die gleichberechtigte Vertretung von Frauen in allen Bereichen und auf allen Hierarchieebenen der Medien muss gefördert werden.
Verstösse von in der Schweiz ansässigen multinationalen Unternehmen und deren Tochtergesellschaften im Ausland gegen Menschenrechts- und Umweltstandards müssen Konsequenzen haben und die Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden.
Wenn Bund, Kantone und Gemeinden ihre Budgets beschliessen, basieren diese oft auf früheren Budgets und Rechnungen. Dies perpetuiert finanzielle Entscheidungen, die Frauen benachteiligen oder die Gleichstellung behindern. Gender Budgeting würde notwendige Änderungen fördern und zur Gleichstellung der Geschlechter beitragen.
Die NGO-Koordination post Beijing Schweiz fordert daher eine zielstrebige Umsetzung der Gleichstellungsziele, die neben traditionellen Forderungen auch neue Entwicklungen, wie die digitale Transformation, berücksichtigen.
Die Grundlagen und Forderungen von CEDAW (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) sind auch in der Schweiz gültig. Die Schweiz hat CEDAW im Jahr 1997 ratifiziert, wodurch das Übereinkommen Teil der schweizerischen Gesetzgebung wurde. Dies bedeutet, dass die Bestimmungen von CEDAW von den Schweizer Gerichten berücksichtigt und angewendet werden können. Auch hier gibt es aber noch Verbesserungspotential, da CEDAW sowohl bei den Gerichten wie auch in der Anwaltschaft noch nicht den notwendigen Stellenwert hat.
Hier sind einige wichtige Aspekte, wie CEDAW in der Schweizer Rechtsprechung genutzt werden kann.
1. Direkte Anwendbarkeit
Bestimmte Bestimmungen von CEDAW sind direkt anwendbar und können vor Schweizer Gerichten geltend gemacht werden. Dies hängt davon ab, ob die Bestimmungen hinreichend klar und konkret formuliert sind, um als Grundlage für gerichtliche Entscheidungen dienen zu können.
2. Einfluss auf nationale Gesetze
CEDAW hat einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung und Anpassung nationaler Gesetze und Grundlagen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung. Die Schweiz hat verschiedene nationale gesetzliche Grundlagen erlassen, um den Anforderungen von CEDAW gerecht zu werden, wie zum Beispiel das Gleichstellungsgesetz (GlG), das die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Erwerbsleben verbietet.
3. Rechtsprechung und Urteile
Schweizer Gerichte beziehen sich in ihren Urteilen auf CEDAW, um nationale Gesetze im Einklang mit internationalen Verpflichtungen auszulegen und anzuwenden. Beispielsweise kann CEDAW bei der Interpretation von Bestimmungen zur Lohngleichheit oder zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt angewendet werden.
Direkter Zugang zum Bericht des Bundesrats vom 26. Juni 2024, inklusive der Stellungnahme des NGO-Koordination post Beijing Schweiz am Ende des Berichts (ebg.admin.ch)