Witwerrente

EUROPA: SOZIALVERSICHERUNGSRECHT

Art. 24 Abs. 2 AHVG, wonach der Anspruch auf die Witwerrente erlischt, wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat, verstösst gegen Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 20. Oktober 2020, B. gg. Schweiz (Beschwerde Nr. 78630/12).
Laut Gerichtshof soll die Witwen-/Witwerrente den überlebenden Ehegatten von der Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit entlasten, damit er Zeit für die Betreuung der Kinder hat. Im konkreten Fall war der Kläger zwar vor dem Tod seiner Frau berufstätig, kümmerte sich dann aber ausschliesslich um seine Kinder, die beim Tod der Mutter 1 Jahr und 9 Monate bzw. 4 Jahre alt waren, so dass er während mehr als 16 Jahren keiner Erwerbsarbeit nachging. Als die Witwerrente erlosch, war er 57 und somit in einem Alter, in dem ein Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schwer vorstellbar war. Die Witwerrente hat sich auf die Art und Weise ausgewirkt, wie er sein Familienleben organisiert und gestaltet hat (Ziffern 34-46).
Fazit: Anwendbarkeit von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK gegeben.

Im Gegensatz zur Witwenrente, erlöscht die Witwerrente gemäss Art. 24 Abs. 2 AHVG bereits wenn das letzte Kind das 18. Altersjahr vollendet hat.
Der Gerichtshof führt aus, die Vermutung, wonach ein Ehemann seine Frau finanziell unterstütze, insbesondere wenn sie Kinder hat, sei nicht mehr aktuell und könne jedenfalls eine solche Ungleichbehandlung nicht mehr rechtfertigen. Das Recht, die EMRK, ist ein lebendiger Mechanismus, der nicht ewig aufgrund historischer Erwägungen ausgelegt werden kann.
Im vorliegenden Fall gebe es keine objektiven und vernünftigen Gründe, die die vom Kläger beanstandete Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts rechtfertigen könnten (Ziffern 61-78).
Fazit: Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK.

Dieser Entscheid wurde von Anne-Sylvie Dupont in NRCAS décembre 2020 bezüglich der Eintretensfrage kritisch analysiert. Der eigentliche Zweck der Witwer- und Witwenrente ist es nämlich nicht, dem überlebenden Elternteil zu erlauben, sich ausschliesslich um die Kinder zu kümmern, sondern diese ist ein Ersatz für den Versorgerschaden infolge Tod des Ehegatten. Er verkennt weiter, dass heute (im Scheidungsrecht) verlangt wird, dass der betreuende Elternteil die Erwerbsarbeit weit vor der Volljährigkeit der Kinder wieder aufnimmt und erweitert. Fraglich ist schliesslich, ob der Gerichtshof mit dieser Rechtsprechung nicht das von der Schweiz gerade nicht ratifizierte Zusatzprotokoll umgeht.
Es fragt sich, wie der schweizerische Gesetzgeber mit dieser Rechtsprechung umgehen wird. Zwar führt der Gerichtshof aus, das Urteil müsse keineswegs als Aufforderung angesehen werden, die Erlöschungsgründe für die Witwenrente zu verschärfen. Genau das schwebt allerdings der Bundesverwaltung vor (siehe Reform der Altersvorsorge 2020 vom 20. November 2013). Fraglich ist auch, wie sich das Urteil auf weitere Bestimmungen auswirken wird, die Witwen gegenüber Witwern anders behandeln (z.B. Art. 24 Abs. 1 AHVG, wonach eine Witwe unter gewissen Umständen auch ohne Kinder Anspruch auf eine Hinterlassenenrente hat).

Direkter Zugang zum EGMR-Urteil (bger.ch)
Direkter Zugang zu Urteil und Analyse im Newsletter RC&Assurances.ch: rcassurances.ch
Zusammenfassung zweier Bundesgerichtsurteile von 2018 zum Thema Witwer/Witwenrente: NL 2019#1
Direkter Zugang zur Vernehmlassungsvorlage Reform der Altersvorsorge 2020 vom 20. November 2013: bsv.admin.ch und Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen vom 30.04.2014: ekf.admin.ch