Verfassungswidrigkeit des brandenburgischen Parité-Gesetzes - keine einfachgesetzliche Änderung demokratischer Strukturprinzipien
DEUTSCHLAND: VERFASSUNGSRECHT
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, 23. Oktober 2020, VfGBbg 55/19
Gastbeitrag von Lea RABE, Doktorandin Universität Münster
Die durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes – Parité-Gesetz vom 12. Februar 2019 (GVBl. I/19, Nr. 1) eingefügten §§ 25 III 2-7, 30 I 2 Nr. 2 Satz 3 BbgLWahlG sind nichtig. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sind durch das Parité-Gesetz in ihren Grundrechten aus Art. 12 II, III 1 BbgLV und Art. 22 III 1 BbgLV verletzt.
Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg hat mit Urteil vom 23. Oktober 2020 die geschlechterparitätischen Bestimmungen des Brandenburgischen Landewahlgesetzes im Verfassungsbeschwerdeverfahren für verfassungswidrig erklärt. Die beschwerdeführenden Abgeordneten des Landtags (AfD und parteilos) seien in ihren Grundrechten auf passive Wahlrechtsgleichheit (Art. 22 III 1 BbgLV) und Gleichberechtigung (Art. 12 II, III 1 BbgLV) verletzt. Die paritätischen Regelungen schlössen die Kandidaturmöglichkeit zumindest für die Hälfte der Listenplätze, bei Erschöpfung der Vorlisten - aufgrund der Notwendigkeit der Listenbildung nach dem Reißverschlussprinzip - sogar vollständig aus. Zudem seien Bewerber und Bewerberinnen gegenüber personenstandsrechtlich «divers» oder ohne Geschlechtseintrag registrierten Personen benachteiligt; diese könnten sich im Rahmen ihrer Auswahlfreiheit nach § 25 III 6 BbgLWahlG für die aussichtsreichere Liste entscheiden und so ihre Wahlchancen erhöhen. Das Parité-Gesetz konkretisiere weder die Gleichheit der Wahl noch das Demokratieprinzip (Art. 2 I, II BbgLV), sondern stehe zu letzterem vielmehr im Widerspruch: Art. 2 II, 56 I 1 BbgLV brächten ein Modell der Gesamtrepräsentation zum Ausdruck - die Vorstellung, dass nur eine effektive Vertretung auch von Frauen im Parlament dem Prinzip der Volkssouveränität entspreche, lege hingegen ein deskriptives, gesellschaftswissenschaftliches Verständnis von Repräsentation zugrunde. Dieses stimme mit dem rechtlichen Verständnis der Landesverfassung nicht überein. Auch Art. 12 III 2 BbgLV (Gleichstellung von Mann und Frau) könne die Eingriffe nicht rechtfertigen: Die Staatszielbestimmung statuiere keine Befugnis zur einfachgesetzlichen Änderung verfassungskonstituierender demokratischer Strukturprinzipien. Die wesentlichen demokratischen Entscheidungen seien der verfassunggebenden beziehungsweise -ändernden Gewalt vorbehalten.
Eine parallel eingereichte Organklage wies das Landesverfassungsgericht wegen Verfristung gemäß § 36 III VerfGGBbg als unzulässig ab. Zeitgleich verhandelte es jedoch das Organstreitverfahren VfGBbg 9/19. Nach der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15.7.2020 stellen die beiden Urteile die zweite verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung mit dem Thema Parität aus Deutschland dar.
Zum Urteil (verfassungsgericht.brandenburg.de)
Zur Pressemitteilung des VfGBbg (verfassungsgericht.brandenburg.de)
Zum Symposium ‹Gender Parity in Parliaments› auf dem Verfassungsblog (verfassungsblog.de)
Parlamentarische Initiative (Paritätische Wahllisten)
siehe auch Rita Süssmuth / Jelena von Achenbach / Frauke Brosius-Gersdorf / Christine Hohmann-Dennhardt / Renate Jaeger / Silke Laskowski / Friederike Wapler: Es gibt keinen Besitzstandsschutz im Wahlrecht, VerfBlog, 2020/10/21 (verfassungsblog.de)