Rückführung einer Frau in die Islamische Republik Iran durch die Schweiz – Verletzung von Art. 1-3, 15 und 16 CEDAW

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SCHWEIZ: CEDAW, FAKULTATIVPROTOKOLL

Stellungnahme des Ausschusses zu Artikel 7 Absatz 3 des Fakultativprotokolls, betreffend die Mitteilung Nr. 173/2021.

Asylanträge sind nicht nach dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, sondern nach dem Kriterium der begründeten Möglichkeit, dass die Antragstellerin bei ihrer Rückkehr aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit verfolgt oder Verfolgung ausgesetzt wird.
Mit Bezug auf den Sachverhalt siehe die Zusammenfassung auf humanrights.ch, T.M.B. et al gegen die Schweiz.
Der Ausschuss führt aus, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar die Vulnerabilität der Beschwerdeführerin erkannt hatte: als persisch-schiitische Muslima im Iran hatte sie sich dem Willen ihres Vaters widersetzt und ihre Familie "entehrt", indem sie unehelich schwanger geworden war. Während der Schwangerschaft war sie geschlagen worden, mit dem Tod bedroht und zur Abtreibung gedrängt und die Familie der Beschwerdeführerin akzeptierte den Vater ihres Kindes, den sie religiös geheiratet hatte - ein kurdischer sunnitischer Muslim aus dem Irak - aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit und seines religiösen Bekenntnisses nicht.
Jedoch wurde die anhaltende institutionalisierte Diskriminierung von Frauen und Mädchen im öffentlichen und privaten Leben nicht ausreichend berücksichtigt. Diese institutionalisierte Diskriminierung ist im Zivil- und Strafrecht und in der Praxis der Islamischen Republik Iran verankert. Die patriarchalischen Werte und frauenfeindlichen Verhaltensweisen durchdringen viele Bereiche des iranischen Familienlebens und die öffentliche Gewalt hält sich zurück, in Fällen von häuslicher Gewalt und Ehrenmorden einzugreifen.
Die Schweizer Behörden hätten die Behauptungen der Beschwerdeführerin, sie sei vor ihrer Abreise nicht in der Lage gewesen, die Behörden der Islamischen Republik Iran um Schutz zu ersuchen, und dass sie dies auch nach ihrer Rückkehr nicht tun könne, nicht von vornherein mit der alleinigen Begründung zurückweisen dürfen, dass die Beschwerdeführerin die Behörden gar nie um Schutz ersucht und ihnen somit keine Möglichkeit gegeben habe, ihr Schutz zu gewährleisten. Das BVGer hätte die Gründe berücksichtigen müssen, warum sie sich nicht an die Behörden gewandt hatte.
In Anbetracht dessen kommt der Ausschuss zum Schluss, dass die Schweiz das tatsächliche, persönliche und vorhersehbare Risiko der Asylsuchenden, Opfer schwerer Formen geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden, wenn sie in die Islamische Republik Iran zurückgeschickt würde, nicht angemessen berücksichtigt und somit das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verletzt hat. Die Rückführung der Beschwerdeführerin verstösst mithin gegen Art. 1-3, 15 und 16 des Übereinkommens unter Berücksichtigung der allgemeinen Empfehlungen 19, 32 und 35.

Der Ausschuss richtet folgende Empfehlungen an die Schweiz:
a) In Bezug auf die Autorin der Mitteilung und ihre Familie: i) Den Fall ihres Asylantrags unter Berücksichtigung der Empfehlungen des Ausschusses wiederaufnehmen; ii) bis zum Abschluss der Überprüfung von einer zwangsweisen Rückführung in die Islamische Republik Iran, wo die Betroffene einer tatsächlichen, persönlichen und vorhersehbaren Gefahr schwerer Formen geschlechtsbezogener Gewalt ausgesetzt wäre, absehen;

b) Generell:
i) Alle erforderlichen Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass schutzbedürftige Opfer geschlechtsspezifischer Formen der Verfolgung unter keinen Umständen in ein Land abgeschoben werden, in dem ihr Leben gefährdet ist oder in dem sie Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt oder von Folter oder Misshandlung werden könnten;
ii) Sicherstellen, dass Asylanträge nicht nach dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit beurteilt werden, sondern nach dem Kriterium der begründeten Möglichkeit, dass die Antragstellerin begründete Furcht haben muss, bei ihrer Rückkehr aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit verfolgt zu werden oder Verfolgung ausgesetzt zu sein;
iii) Sicherstellen, dass die Behörden bei der Prüfung der Anträge, wann immer dies erforderlich ist, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die zur Unterstützung des Antrags erforderlichen Beweise zu erbringen und/oder zu überprüfen, einschließlich der Suche und Sammlung von Informationen aus zuverlässigen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen über die Menschenrechtslage im Herkunftsland, insbesondere im Hinblick auf die Situation von Frauen und Mädchen, und dass sie alle in diesem Zusammenhang erforderlichen Maßnahmen ergreifen;
iv) bei der Auslegung der gesetzlich festgelegten Gründe für die Gewährung von Asyl sicherstellen, dass geschlechtsspezifische Anträge gegebenenfalls in die Kategorie der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe eingeordnet werden, und erwägen, in der Asylgesetzgebung die Begriffe Geschlecht oder Gender oder die Tatsache, dass man einen anderen Status hat, in die Liste der Gründe für die Gewährung des Flüchtlingsstatus aufzunehmen.
Gemäss Art. 7 Abs. 4 des Fakultativprotokolls hat die Schweiz die Auffassungen des Ausschusses zusammen mit etwaigen Empfehlungen gebührend in Erwägung zu ziehen und dem Ausschuss innerhalb von sechs Monaten eine schriftliche Antwort, einschliesslich Angaben über alle unter Berücksichtigung der Auffassungen und Empfehlungen des Ausschusses getroffenen Massnahmen zu unterbreiten. Sie wird ausserdem aufgefordert, die Auffassungen und Empfehlungen des Ausschusses weithin bekannt zu machen, damit sie alle Teile der Gesellschaft erreichen (sic!).

Direkter Zugang zur Mitteilung 173/2021 vom 8. Juni 2023 (juris.ohchr.org)

Gender Law Newsletter FRI 2023#4, 01.12.2023 - Newsletter abonnieren