Kopftuchverbot am Arbeitsplatz

EUROPA: ANTIDISKRIMINIERUNGSRECHT

Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 15. Juli 2021 in den verbundenen Rechtssachen C-804/18 und C-341/19.

Das Urteil in den Rechtssachen C-804/18 und C-341/19 betraf zwei Sachverhalte, die sich in Deutschland abspielten. Beiden Arbeitnehmerinnen wurde das Tragen eines islamischen Kopftuches am Arbeitsplatz verwehrt. Wobei sich der eine Arbeitgeber (C-804/18) auf eine interne Regelung stütze, die das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbot und der andere Arbeitgeber (C-341/19) auf eine interne Regelung, die ‘nur’ das Tragen von auffälligen grossflächigen politischen, weltanschaulichen oder religiösen Zeichen am Arbeitsplatz verbot. Die deutschen Gerichte gelangten vorfrageweise an den EuGH, um die Auslegung der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG sowie der Art. 10 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu klären.

Sachverhalt der Rechtssache C-804/18:
Die Arbeitnehmerin (IX) war in einer Kindertagesstätte (WABE) angestellt. Gemäss der Dienstanweisung von WABE gilt für die Beschäftigten das Neutralitätsgebot, welches beinhaltet, dass die Mitarbeiter*innen gegenüber Eltern, Kindern und Dritten am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen tragen. Nachdem sich IX weigerte die Anweisung, das islamische Kopftuch bei Kontakt mit den Eltern oder deren Kinder abzulegen, zu befolgen, stellte der Arbeitgeber sie frei. Dagegen erhob IX Klage mit dem Antrag, WABE zu verurteilen und die Abmahnungen wegen des Tragens des islamischen Kopftuchs aus ihrer Personalakte zu streichen. Sie machte eine unmittelbare Diskriminierung sowie die Verletzung der Religionsfreiheit geltend.

Sachverhalt der Rechtssache C-341/19:
Die Arbeitnehmerin (MJ) war in einer Drogerie als Verkaufsberaterin und Kassiererin bei der MH Müller Handels GmbH (MH) angestellt. Der Arbeitgeber erteilte ihr die Weisung, am Arbeitsplatz ohne islamisches Kopftuch zu erscheinen. Dabei stützte sich MH auf eine interne Richtlinie, welche das Tragen auffälliger grossflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verbietet. Gegen die Weisung erhob MJ vor den nationalen Gerichten Klage auf Feststellung deren Unwirksamkeit. Sie machte geltend, ihre Religionsfreiheit sei verletzt.

Vereinfacht gesagt, stellte sich in beiden Verfahren die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz mit der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG vereinbar ist bzw. keine Diskriminierung darstellt.

Erwägungen in der Rechtssache C-804/18:
Zunächst verneinte der EuGH das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der Religion. Er verwies dabei auf ein bereits ergangenes Urteil des Gerichtshofs (G4S Secure Solutions C-157/15), welches besagte, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens alle Arbeitnehmer*innen des Unternehmens gleichbehandle, indem ihnen allgemein und undifferenziert vorgeschrieben werde, sich neutral zu kleiden. Sofern eine solche Regel allgemein und unterschiedslos angewandt werde, bestehe keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruhe, das untrennbar mit der Religion oder Weltanschauung verbunden sei (Rn. 52).
Der EuGH unterliess sodann die Prüfung einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, da dieser Diskriminierungsgrund nicht in den Anwendungsbereich der herangezogenen Richtlinie 2000/78 fällt (Rn. 58).
Der Gerichtshof ging sodann von einer mittelbaren Ungleichbehandlung aufgrund der Religion aus, weil die interne Regel statistisch fast ausschliesslich weibliche Arbeitnehmerinnen betreffe, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch trügen (Rn 59). Eine solche mittelbare Ungleichbehandlung ist mit der Richtlinie vereinbar, wenn die Vorschriften, aus denen sich die Ungleichbehandlung ergebe, durch ein rechtmässiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich seien (Rn. 60). Der Gerichtshof sah im Willen des Arbeitgebers, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kund*innen eine Politik der Neutralität zum Ausdruck zu bringen, ein rechtmässiges Ziel. Dieses Ziel sei Teil der unternehmerischen Freiheit gemäss Art. 16 der Charta der Grundrecht der EU und sei insbesondere dann rechtmässig, wenn nur die Arbeitnehmer*innen, die mit den Kund*innen in Kontakt treten, davon betroffen seien (Rn. 63). Eine sachliche Rechtfertigung setze jedoch ein wirkliches Bedürfnis des Arbeitgebers voraus, welches dieser nachzuweisen habe (Rn 64). Für den Nachweis könnten insbesondere die Rechte und berechtigten Erwartungen der Kund*innen und Nutzer*innen, i.c. die Eltern, berücksichtigt werden. Dabei verwies der Gerichtshof auf das Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung gemäss Art. 14 der Charta zu entscheiden (Rn 65). Daneben sei für ein wirkliches Bedürfnis der Nachweis des Arbeitgebers, dass ohne eine solche Politik der Neutralität seine unternehmerische Freiheit beeinträchtigt würde, von Belang (Rn. 67). Weiter müsse für das Verneinen einer mittelbaren Diskriminierung die interne Regel geeignet sein zur Gewährleistung der ordnungsgemässen Anwendung der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers. Zusätzlich müsse die Regel auf das unbedingt Erforderliche beschränkt sein (Rn. 68).

Erwägungen in der Rechtssache C-341/19:
Der Gerichtshof hält zu Beginn fest, dass eine Ungleichbehandlung, die sich aus einer Vorschrift ergibt, die auf einem Kriterium beruht, das mit der Religion oder Weltanschauung untrennbar verbunden ist, als unmittelbar auf diesen Grund gestützt zu gelten habe. Werde das Kriterium des Tragens grossflächiger Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen mit einer oder mehreren bestimmten Religion(en) oder Weltanschauung(en) als untrennbar verbunden angesehen, habe dies zur Folge, dass einige Arbeitnehmer*innen wegen ihrer Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt würden als andere, so dass eine unmittelbare Diskriminierung vorliege (Rn. 73).
Falls keine unmittelbare Diskriminierung durch das nationale Gericht festgestellt werden könne, habe dieses eine mittelbare Diskriminierung zu prüfen. Die Ungleichbehandlung ist im Sinne der Richtlinie rechtmässig, wenn diese durch ein rechtmässiges Ziel sachlich gerechtfertigt werden könne und die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich wären (Rn. 74). Die Verhinderung sozialer Konflikte sowie ein neutrales Auftreten gegenüber den Kund*innen könne einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entsprechen (Rn. 76). Sodann führt der Gerichtshof zu Eignung der Massnahme aus, dass eine Politik der Neutralität nur dann wirksam verfolgt werden könne, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen erlaubt seien, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Massnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels beeinträchtige und damit die Kohärenz dieser Politik der Neutralität selbst in Frage stelle (Rn 77). Der Gerichtshof sah in der Regel, des Arbeitgebers nur grossflächige Zeichen zu verbieten, eine mittelbare Diskriminierung; mit anderen Worten sei eine Neutralitätspolitik nur gerechtfertigt, wenn das Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasse. Des Weiteren könne ein auf auffällige grossflächige Zeichen beschränktes Verbot eine unmittelbare Diskriminierung darstellen (Rn. 78). Zum Schluss stellt der EuGH fest, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützten, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen sei, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie berücksichtigt werden dürften (Rn. 90).

Direkter Zugang zum Urteil (curia.europa.eu)
Siehe auch Kommentar von Shino Ibold (verfassungsblog.de)