Kein humanitäres Visum für eine afghanische Frau mit Kindern ohne bewiesene, konkretere Gefährdung

Spendenbutton / Faire un don
Gender Law Newsletter FRI 2024#4, 01.12.2024 - Newsletter abonnieren

SCHWEIZ: AUSLÄNDERRECHT

Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-1053/2023 vom 22. August 2024

Für die Erteilung eines humanitären Visums an eine afghanische Frau genügen ihr weibliches Geschlecht und ihre Nationalität gemäss dem Bundesverwaltungsgericht nicht.

Eine afghanische Frau, ihre Kinder und ihre Schwiegermutter haben bei der schweizerischen Botschaft in Pakistan ohne Erfolg um ein humanitäres Visum für ein längerfristigen Aufenthalt gebeten. Sie hatten ihr Gesuch sowohl mit besonderen, persönlichen Gefahren als auch mit der allgemeinen Drohung, der sie in Afghanistan als Frauen ausgesetzt sind, begründet. Sie haben beim Bundesverwaltungsgericht die Abweisung des Gesuchs angefochten.
Das Gericht weist zuerst darauf hin, dass Visen für längerfristigen Aufenthalten nicht den Schengen-Visen-Regeln, sondern nur den Bestimmungen des nationalen Rechts unterliegen (E. 3.1). Das Aufsuchen einer schweizerischen Botschaft zwecks Erteilung eines humanitären Visums führt zudem, so das Gericht, zu keiner internationalen Schutzpflicht, weil die gesuchstellende Person sich damit nicht der Hoheitsgewalt der Schweiz unterstellt (E. 3.6).
Gemäss Art. 4 Abs. 2 der Verordnung vom 15. August 2018 über die Einreise und die Visumerteilung kann ein Visum für einen längerfristigen Aufenthalt erteilt werden, auch wenn die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind, wenn humanitäre Gründe vorliegen. Solche Gründen liegen «insbesondere dann vor, wenn die betreffende Person im Herkunftsstaat unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist». Gemäss dem Bundesverwaltungsgericht sind «sehr restriktiv[e] Bedingungen» zu erfüllen. Eine «besondere Notsituation» muss ein behördliches Eingreifen, zum Beispiel «aufgrund einer konkreten individuellen Gefährdung,  [welche die gesuchstellende Person] mehr als alle anderen Personen betrifft» (oder bei «akuten kriegerischen Ereignissen»), «zwingend erforderlich» machen. Zudem sei «in der Regel davon auszugehen, dass keine Gefährdung mehr besteht», wenn die betreffende Person sich in einem Drittstaat befindet (E. 3.2). Die Gefährdung muss ausserdem «offensichtlich gegeben» sein und der volle Beweis davon muss erbracht werden (E. 3.3).
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet, dass die persönlichen Gefahren, welche die Beschwerdeführenden aufgerufen haben, für die verlangte Gefährdung ungenügend bewiesen sind und ohnehin nicht genügen (E. 6.6, 7.3 und 8.4).
Was die allgemeine Drohung angeht, der Frauen in Afghanistan ausgesetzt sind, erkennt das Gericht zwar, dass «sich die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 kontinuierlich verschlechtert hat». Es erachtet aber, dass «alle Frauen und Mädchen in Afghanistan – und nicht einzig die Beschwerdeführenden individuell – in ähnlicher Weise betroffen [sind]. Das blosse Merkmal des weiblichen Geschlechts reicht auch unter Berücksichtigung der aktuellen Machtverhältnisse in Afghanistan nicht aus, um im konkreten Einzelfall offensichtlich eine unmittelbare, ernsthafte und konkrete Gefährdung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV zu begründen». Das Gericht verlangt somit «[e]ine besonders gelagerte Gefährdungssituation im Vergleich zu anderen in Afghanistan lebenden Personen, namentlich auch anderen Frauen und Mädchen» (E. 7.2).
Auch die Tatsache, dass eine der Beschwerdeführenden (die Mutter) nach ihrer Rückschaffung aus Pakistan von Afghanistan aus nach Iran reisen konnte, ohne von den Talibans angegriffen zu werden, spreche gegen die für das Visum verlangte Gefährdung (E. 9). 

Kommentar von Alexandre Fraikin
Dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) folgt dem Standpunkt früherer Urteile des Bundesverwaltungsgerichts in Bezug auf afghanische Frauen (vgl. u.a. Urteil des BVGer F-406/2024 vom 11. Juli 2024 E. 6.4; Urteil des BVGer F-3476/2023 vom 6. Juni 2024 E. 6.2.2; Urteil des BVGer F-634/2024 vom 6. Mai 2024 E. 6; und Urteil des BVGer F-1451/2022 vom 27. März 2024 E. 8.4). Dieser Standpunkt kann aus folgenden Gründen kritisiert werden.
Zwar ist seit der Änderung von Art. 19 Abs. 1 des Asylgesetzes am 29. September 2012 ein Asylgesuch bei einer schweizerischen Botschaft nicht mehr möglich. Die Kriterien für humanitäre Visen zwecks eines langfristigen Aufenthalts zur Einreichung eines Asylgesuchs unterstehen ihrerseits nur dem nationalen Recht (vgl. Urteil des BVGer F-7298/2016 vom 19. Juni 2017 E. 4.1 gestützt auf das Urteil des EuGH vom 7. März 2017, X und X gegen Belgien, C?638/16). Diese Kriterien sind gemäss dem Bundesverwaltungsgericht «anders gelagert» als die Kriterien für Asylgesuche, denn sie sind im Vergleich zu den Kriterien im Rahmen der früheren Asylgesuche bei Botschaften «noch restriktiver ausgestaltet» (BVGE 2018 VII/5 E. 3.6.3; Urteil des BVGer F-1451/2022 vom 27. März 2024 E. 7.2–7.3), sie unterliegen einem erhöhten Beweismass und sie werden unter anderen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen geprüft (Urteil des BVGer F-1451/2022 vom 27. März 2024 E. 7.6). Auf die Schweiz nicht anwendbar sind zudem die Kriterien zur Anerkennung des internationalen Schutzes, die in der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden "Richtlinie 2011/95/EU") vorgesehen sind.
Trotzdem muss ein Abgrund zwischen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Bezug auf humanitäre Visen und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der europäischen Union (EuGH) in Bezug auf Asylgesuche gestützt auf die gerade erwähnte EU-Richtlinie festgestellt werden.
Gemäss dem in diesem Newsletter kommentierten Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2024 (C?608/22 und C?609/22) können sich nämlich die EU-Mitgliedsstaaten mit dem Beweis des Geschlechts und der
Staatsangehörigkeit asylsuchender afghanischer Frauen begnügen, um eine Verfolgung dieser Frauen im Sinn der Richtlinie 2011/95/EU – ausgelegt unter Beachtung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, des Übereinkommens vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), die auch in der Schweiz gelten –  festzustellen (§ 57). Gemäss diesem Urteil führen bereits die Rechtsvorschriften der Talibans, die für alle Frauen in Afghanistan gelten, «[...] aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird» (§ 44). Und der «fehlende[r] Schutz der Frauen vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt in Afghanistan» gilt gemäss dem Gerichtshof als «Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, die nach Art. 3 EMRK verboten sind» (§ 43).
Daraus kann abgeleitet werden, dass bereits die für alle afghanische Frauen  geltenden Rechtsnormen ihnen ein menschenwürdiges Alltagsleben verunmöglichen. Der Gerichtshof hat dabei die Tatsache nicht mal berücksichtigt, dass Frauen in Afghanistan seit Ende August 2024 in der Öffentlichkeit auch nicht mehr sprechen dürfen (vgl. Human Rights Watch, 27. August 2024, https://www.hrw.org).
In Art. 4 Abs. 2 VEV gilt nun die Gefahr für Leib und Leben nur als Beispiel eines humanitären Grundes für die Erteilung des Visums, da dieser Grund mit dem Wort «insbesondere» eingeführt wird. Das Bundesverwaltungsgericht hat anerkannt, dass das humanitäre Visum auch bei offensichtlichen, direkten, ernsthaften und konkreten Gefahren für wesentliche Interessen der betreffenden Person mit einer gleichwertigen Bedeutung (z.B. die sexuelle Integrität) erteilt werden kann (BVGE 2018 VII/5 E. 3.6.3). Und die Bedeutung der Menschenwürde in der Schweiz ist so hoch, dass sie in Art. 7 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) als erstes Grundrecht, vor dem Recht auf Achtung des Lebens im Art. 10 BV, aufgezählt wird. Zumindest die Gleichwertigkeit des Interesses auf die Aufrechterhaltung der Menschenwürde mit dem Interesse auf Schutz gegen leibliche Eingriffe könnte bejaht werden.
Der im Urteil des Gerichtshofs der europäischen Union erwähnte fehlende Rechtsschutz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und häusliche Gewalt für alle Frauen in Afghanistan gefährden auch ihren Leib und ihr Leben, die in Art. 4 Abs. 2 VEV ausdrücklich als Rechtsgüter erwähnt werden.
Die Auswirkungen der gegenwärtigen Vorschriften gegen afghanische Frauen könnten somit als Gefahr für die durch Art. 4 Abs. 2 VEV geschützten Rechtsgüter wahrgenommen und als solche für jede Frau konkret berücksichtigt werden. Die Frage stellt sich, warum Vorschriften gegen alle afghanischen Frauen nicht als unmittelbare, ernsthafte und konkrete Gefahren für die Menschenwürde und die physische Integrität aller dieser Frauen wahrgenommen werden sollten.
Zwar verlangt das Bundesverwaltungsgericht zur Erteilung eines humanitären Visums eine Gefahr, welcher die gesuchstellenden Frauen spezifisch im Vergleich zu den anderen Frauen in Afghanistan ausgesetzt sind. Ein solcher Vergleich wird aber in Art. 4 Abs. 2 VEV nicht ausdrücklich verlangt. Er verstösst zudem in der hier vertretenen Ansicht gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, das in Art. 8 Abs. 3 BV verankert ist. Denn gemäss diesem Gebot ist «die Geschlechtszugehörigkeit als taugliches Kriterium für rechtliche Differenzierungen grundsätzlich aus[geschlossen]», ausser wenn «auf dem Geschlecht beruhende biologische oder funktionale Unterschiede eine Gleichbehandlung absolut ausschliessen» (BGE 129 I 265 E. 3.2 S. 269; Urteil des BGer 2C_752/2020 vom 20. Mai 2021 E. 4.3). Wenn die Lage der beschwerdeführenden Personen nur mit der Lage der anderen Frauen in Afghanistan, und die Lage der Männer in Afghanistan nur mit der Lage der Männer in Afghanistan verglichen werden, liegt in der hier vertretenen Ansicht eine verbotene Differenzierung aufgrund des Geschlechts vor. Die Lage der Frauen in Afghanistan sollte somit mit der Lage der ganzen afghanischen Bevölkerung inklusive der Lage der Männer verglichen werden. Somit könnte das Vorliegen einer besonderen Gefahr für Frauen in Afghanistan hervorgehoben und als solche konkreter berücksichtigt werden. Die Anforderung, innerhalb einer bereits verfolgten Gruppe noch mehr betroffen zu sein als die anderen Mitglieder dieser Gruppe, führt ansonsten dazu, dass das Leiden, dem alle Mitglieder dieser Gruppe ausgesetzt werden, ausgeblendet wird. Dies führt zu einer Verzerrung der Einschätzung der konkreten Gefahr der gesuchstellenden Personen.  


Direkter Zugang zum Urteil (https://bvger.weblaw.ch)
Vgl. Gastbeitrag zum Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2024 (C?608/22 und C?609/22