Neue Rechtsprechung bei entgangenem Lohn für Opfer von Menschenhandel

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Gender Law Newsletter FRI 2024#1, 01.03.2024 - Newsletter abonnieren

EUROPA UND SCHWEIZ: OPFER VON MENSCHENHANDEL

Der EGMR hat festgestellt, dass ein Opfer von Menschenhandel das Recht hat, von seinem Menschenhändler eine Entschädigung für finanzielle Schäden zu verlangen Kann die Entschädigung beim Täter nicht eingetrieben werden, sieht das Opferhilfegesetz der Schweiz jedoch keine Entschädigung für materiellen Schaden wie ausstehender Lohn vor.

FIZ – Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration in seinen News vom Januar 2024:
«Am 28. November entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Krachunova gg. Bulgarien, dass ein Verstoss gegen Artikel 4 (Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliegt. Es ging um eine Betroffene von Menschenhandel, die eine Entschädigung in der Höhe von 22 500 BGN (ca. 11'000 CHF) für die Einkünfte aus der Sexarbeit einforderte, die ihr von ihrem Menschenhändler entzogen worden waren. Das bulgarische Gericht erklärte in seiner ersten Anhörung, dass Krachunovas Forderung nach finanziellem Schadenersatz nicht geprüft werden könne, da es sich um Geld handle, das durch «sittenwidrige» Handlungen verdient wurde. Das Gericht begründete dies damit, dass «each contract for sexual services made between [the applicant] and the respective client was void as infringing good morals … and there [could] be no question of damages».
Der EGMR stellte fest, dass die Staaten verpflichtet sind, den Opfern des Menschenhandels die Möglichkeit zu geben, von den Menschenhändler*innen eine Entschädigung für entgangene Gewinne zu verlangen. Zur Frage der «guten Sitten» erklärte der Gerichtshof, dass die Menschenrechte das Hauptkriterium bei der Gestaltung und Umsetzung von Massnahmen gegen Prostitution und Menschenhandel sein sollten. Der Gerichtshof stellte fest, dass es in diesem Fall nicht gegen die guten Sitten verstossen hätte, wenn der Menschenhändler aufgefordert worden wäre, das dem Opfer abgenommene Geld zurückzugeben. Zum ersten Mal hat der EGMR festgestellt, dass ein Opfer von Menschenhandel das Recht hat, von seinem Menschenhändler eine Entschädigung für finanzielle Schäden zu verlangen.»
Es fragt sich dann allerdings, ob ein solcher ausstehender Lohn auch effektiv eingetrieben werden kann. Für die Schweiz hat das Bundesgericht entschieden, dass den Staat jedenfalls keine Verpflichtung trifft, für ausstehenden Lohn bei Opfern von Menschenhandel aufzukommen:
«Ein Mann aus der Ukraine ist in der Schweiz Opfer von Menschenhandel auf einer Baustelle geworden. Der Täter wurde wegen Menschenhandel verurteilt und das Opfer erhielt 5000 CHF als Wiedergutmachung, plus den entgangenen Lohn von 13‘577 CHF als Schadenersatz. Weil das Geld beim Arbeitgeber nicht geholt werden konnte, beantragte er das Geld bei der Opferhilfe. Diese zahlte ihm 4‘000 CHF Wiedergutmachung aus, wollte die Summe vom Schadenersatz aber nicht zahlen. Dagegen erhob er Beschwerde beim kantonalen Verwaltungsgericht, und zog sie weiter ans Bundesgericht. Das Bundesgericht entschied am 11. Oktober 2023 (1C_19/2023), dass er kein Anrecht auf Entschädigung über die Opferhilfe habe, da der Lohn ein materieller Schaden sei und somit kein „Schaden an der Person selber“ sei. Auch wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass keine Gesetzeslücke bestehe, bleibt die Frage aus Sicht der FIZ ungeklärt, wie das Opfer den ausstehenden und ihm zustehenden Lohn erhält oder kompensieren kann. Von einer Gesetzeslücke im Sinne des Opfers – ob via verbesserten Zugang zum Vermögen des Arbeitgebers oder auf anderen Wegen –  kann deshalb durchaus die Rede sein.»

Direkter Zugang zur Mitteilung des FIZ: fiz-info.ch
Bundesgerichtsurteil 1C_19/2023 vom 11.10.2023: bger.ch
CASE OF KRACHUNOVA v. BULGARIA (Application no. 18269/18): hudoc.echr.coe.int