Tonische Immobilität im Sexualstrafrecht
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Gender Law Newsletter FRI 2024#3, 01.09.2024 - Newsletter abonnieren
SCHWEIZ: STRAFRECHT MIT EINER INTERDIZIPLINÄREN PERSPEKTIVE
2024
Sven Schleifer, «Tonische Immobilität und die Auslegung der neuen sexualstrafrechtlichen Tatbestände in Art. 189 und 190 StGB», sui generis 2024, S. 51-64.
Seit dem 1. Juli 2024 liegt dann bereits ein sexueller Übergriff (Art. 189 Abs. 1 StGB) oder eine Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB) vor, wenn die damit verbundenen strafbaren Handlungen entweder «gegen den Willen» oder unter «Ausnutzung eines Schockzustandes» des Opfers begangen worden sind. Der zweite Fall dient der Erfassung von Situationen, in denen das Opfer erstarrt und keine ablehnende Willensäusserung mehr ausdrücken kann (S. 52, Rz. 1). Der Autor dieses Artikels prüft den Fall des Schockzustands aus einer interdisziplinären Perspektive und legt anschliessend Art. 189 Abs. 1 StGB und Art. 190 StGB aus.
Der Autor unterscheidet fünf Abwehrstrategien gegen akute Gefahren, die durch unsere alten Geirnstrukturen zur Steigerung der Überlebenschancen ausgelöst werden können. Es handelt sich dabei um 1.) den Freeze-Alert, der dazu dienen kann, nicht entdeckt zu werden und Zeit zur Beobachtung der Gefahr zu gewinnen; 2.) die Flucht; 3.) den Kampf; 4.) die tonische Immobilität. Letzere wird dann aktiviert, wenn die Reaktionen 2 und 3 aus der subjektiven Perspektive der bedrohten Person als aussichtslos erscheinen oder ohne Erfolg versucht worden sind (S. 54, Rz. 8-10). Bei der tonischen Immobilität werden ohne bewusste Entscheidung alle Reaktionen aus äusseren Stimuli blockiert und Schmerzen unterdrückt, ein Wechsel zu einem anderen Zustand bleibt noch möglich (S. 55, Rz. 10–12). Wenn eine Aggression trotz der tonischen Immobilität weitergeht, folgt 5.) die kollabierte Immobilität, bei der der Zugang zu Energiereserven ohne bewusste Steuerung blockiert wird und sowohl physische als auch psychische Schmerzen unterdrückt werden. Der Autor unterstreicht, dass dies eine scheinbare Teilnahmelosigkeit eines Opfers nach einem sexuellen Übergriff erklären kann (S. 55, Rz. 13). Der Ablauf der Reaktionen hängt von der «subjektiv wahrgenommenen Nähe zur Gefahr» ab (S. 53, Rz. 4–5). Der Autor weist nun darauf hin, dass die sexuellen Übergriffe die höchste Frequenz und Intensität von Symptomen der tonischen Immobilität bei Menschen hervorrufen (S. 56, Rz. 14). Unter anderem die Lähmung, die Unfähigkeit, nach Hilfe zu rufen, Zittern, abschnittsweise geschlossene Augen, eine verringerte Schmerzempfindlichkeit und Depersonalisationsgefühle treten je nach Situation auf (S. 57, Rz. 17).
Gemäss dem Autor ist der Begriff «Schockzustand» in Art. 189 und 190 StGB gestützt auf eine teleologische Auslegung als tonische Immobilität zu verstehen, die bereits vor einem belastenden Ereignis als Schutzreaktion auftritt und nicht als Schock im Sinn einer Erschütterung nach diesem Ereignis (S. 58, Rz. 22–23 und S. 63, Rz. 37). Er weist auch darauf hin, dass der Gesetzgeber die Beurteilung, ob eine Handlung gegen den Willen vorliegt, auf den – auch nonverbal und konkludent – zum Ausdruck gebrachten ablehnenden Willen des Opfers stützen wollte (S. 60, Rz. 29). Jedoch lehnt er pauschale Anforderungen an diese Kommunikation in Anbetracht von Art. 36 Abs. 1 der Istanbul-Konvention ab, der eine Strafbarkeit jeder nicht einverständlichen sexuell bestimmten Handlungen fordert. Er plädiert für einen weiten Kommunikationsbegriff, der auch die nicht bewusst gesteuerte Körperhaltung einschliesst (S. 60–61, Rz. 30–31). Die beschuldigte Person muss aber die Ablehnung zumindest für möglich gehalten und in Kauf genommen haben (S. 62, Rz. 34). Die Annahme eines Konsenses kann zudem, so der Autor, nur auf der Grundlage einer Interaktion zwischen bestimmbaren Personen erfolgen, die eine Kommunikation über einen möglichen gemeinsamen Sexualkontakt erkennen können. Somit sind andere Verhaltensweisen oder Interaktionen mit anderen Personen für die Ermittlung des Konsenses nichts relevant (S. 61, Rz. 32).
Da auch eine Person in tonischer Immobilität einen entgegenstehenden Willen hat und nur in ihrem aktiven Ausdruck eingeschränkt wird, erachtet der Autor, dass der «Schockzustand» (tonische Immobilität) nur eine Konkretisierung des Tatbestandelements «gegen den Willen» darstellt, um klarzustellen, dass auch ein passives Verhalten unter gewissen Umständen als Ablehnung gilt, ohne dass eine verbale oder nicht verbale Gegenwehr gefordert wird (S. 62, Rz. 36).
Der Autor unterscheidet fünf Abwehrstrategien gegen akute Gefahren, die durch unsere alten Geirnstrukturen zur Steigerung der Überlebenschancen ausgelöst werden können. Es handelt sich dabei um 1.) den Freeze-Alert, der dazu dienen kann, nicht entdeckt zu werden und Zeit zur Beobachtung der Gefahr zu gewinnen; 2.) die Flucht; 3.) den Kampf; 4.) die tonische Immobilität. Letzere wird dann aktiviert, wenn die Reaktionen 2 und 3 aus der subjektiven Perspektive der bedrohten Person als aussichtslos erscheinen oder ohne Erfolg versucht worden sind (S. 54, Rz. 8-10). Bei der tonischen Immobilität werden ohne bewusste Entscheidung alle Reaktionen aus äusseren Stimuli blockiert und Schmerzen unterdrückt, ein Wechsel zu einem anderen Zustand bleibt noch möglich (S. 55, Rz. 10–12). Wenn eine Aggression trotz der tonischen Immobilität weitergeht, folgt 5.) die kollabierte Immobilität, bei der der Zugang zu Energiereserven ohne bewusste Steuerung blockiert wird und sowohl physische als auch psychische Schmerzen unterdrückt werden. Der Autor unterstreicht, dass dies eine scheinbare Teilnahmelosigkeit eines Opfers nach einem sexuellen Übergriff erklären kann (S. 55, Rz. 13). Der Ablauf der Reaktionen hängt von der «subjektiv wahrgenommenen Nähe zur Gefahr» ab (S. 53, Rz. 4–5). Der Autor weist nun darauf hin, dass die sexuellen Übergriffe die höchste Frequenz und Intensität von Symptomen der tonischen Immobilität bei Menschen hervorrufen (S. 56, Rz. 14). Unter anderem die Lähmung, die Unfähigkeit, nach Hilfe zu rufen, Zittern, abschnittsweise geschlossene Augen, eine verringerte Schmerzempfindlichkeit und Depersonalisationsgefühle treten je nach Situation auf (S. 57, Rz. 17).
Gemäss dem Autor ist der Begriff «Schockzustand» in Art. 189 und 190 StGB gestützt auf eine teleologische Auslegung als tonische Immobilität zu verstehen, die bereits vor einem belastenden Ereignis als Schutzreaktion auftritt und nicht als Schock im Sinn einer Erschütterung nach diesem Ereignis (S. 58, Rz. 22–23 und S. 63, Rz. 37). Er weist auch darauf hin, dass der Gesetzgeber die Beurteilung, ob eine Handlung gegen den Willen vorliegt, auf den – auch nonverbal und konkludent – zum Ausdruck gebrachten ablehnenden Willen des Opfers stützen wollte (S. 60, Rz. 29). Jedoch lehnt er pauschale Anforderungen an diese Kommunikation in Anbetracht von Art. 36 Abs. 1 der Istanbul-Konvention ab, der eine Strafbarkeit jeder nicht einverständlichen sexuell bestimmten Handlungen fordert. Er plädiert für einen weiten Kommunikationsbegriff, der auch die nicht bewusst gesteuerte Körperhaltung einschliesst (S. 60–61, Rz. 30–31). Die beschuldigte Person muss aber die Ablehnung zumindest für möglich gehalten und in Kauf genommen haben (S. 62, Rz. 34). Die Annahme eines Konsenses kann zudem, so der Autor, nur auf der Grundlage einer Interaktion zwischen bestimmbaren Personen erfolgen, die eine Kommunikation über einen möglichen gemeinsamen Sexualkontakt erkennen können. Somit sind andere Verhaltensweisen oder Interaktionen mit anderen Personen für die Ermittlung des Konsenses nichts relevant (S. 61, Rz. 32).
Da auch eine Person in tonischer Immobilität einen entgegenstehenden Willen hat und nur in ihrem aktiven Ausdruck eingeschränkt wird, erachtet der Autor, dass der «Schockzustand» (tonische Immobilität) nur eine Konkretisierung des Tatbestandelements «gegen den Willen» darstellt, um klarzustellen, dass auch ein passives Verhalten unter gewissen Umständen als Ablehnung gilt, ohne dass eine verbale oder nicht verbale Gegenwehr gefordert wird (S. 62, Rz. 36).