Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt
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Gender Law Newsletter FRI 2024#2, 01.06.2024 - Newsletter abonnieren
DEUTSCHLAND: INTERDISZIPLINÄRE KRIMINOLOGIE
2024
Helena SCHÜTTLER, Paulina LUTZ, Maja WERNER, Leonie STEINL, Inga SCHUCHMANN, Yvonne KRIEG und Dilken ÇELEBI (Hrsg.) / Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung / 2024 / Nomos / ISBN (ePDF) 978-3-7489-4126-2
A. Überblick
Der vorliegende Tagungsband enthält die Vorträge anlässlich der zweiten Ausgabe der Tagung «Geschlechteraspekte in Kriminologie und Strafrechtswissenschaft» von 2022 des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Juristinnenbund unter dem Leitthema «Sexuelle Selbstbestimmung und geschlechtsspezifische Gewalt» mit Fokus auf den strukturellen Ursachen und Verhältnissen geschlechtsspezifischer Gewalt. Ergänzt wird der Band durch zwei einleitende Beiträge der Herausgeberinnen aus strafrechtlicher sowie kriminologischer Perspektive.
Aus dem Grusswort und Danksagung: «Trotz der Verankerung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung in vielen nationalen Gesetzen und völkerrechtlichen Instrumenten weisen zahlreiche nationale und internationale Berichte sowie Forschungsergebnisse darauf hin, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung oftmals nicht ausreichend geschützt wird. Insbesondere Menschen, die weiblich gelesen werden, sind aufgrund ihrer (ggf. vermeintlichen) Zugehörigkeit zu einer besonders vulnerablen Gruppe einem erhöhten Risiko sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Dies trifft insbesondere zu, wenn sie zugleich trans, nonbinär, intergeschlechtlich, People of Colour oder Menschen mit Behinderung sind. Unter dem Begriff der Intersektionalität können diese verschiedenen ineinandergreifenden Merkmale berücksichtigt werden, die Diskriminierung und Gewalt verstärken können.»
B. Detaillierter Inhalt
1.) Dilken ÇELEBI, Inga SCHUCHMANN und Leonie STEINL, «Feministische Strafrechtskritik – Geschlechterdimensionen im materiellen Strafrecht»
«Der vorliegende Beitrag soll eine Einführung in das Themenfeld der feministischen Strafrechtskritik geben», wobei zu berücksichtigen ist, dass es viele feministische Strömungen gibt. Der Beitrag widmet sich sodann den Geschlechterbildern im materiellen Strafrecht und leuchtet Sexualstraftaten, Femizide und Schwangerschaftsabbrüche aus.
Es sollte ein Anliegen feministischer Strafrechtskritik sein, «Forderungen nach neuen Straftatbeständen oder Strafschärfungen kritisch zu begegnen und sie aus feministischer Perspektive auf den Prüfstand zu stellen». «Sehr viel wichtiger für die Ursachenbekämpfung ist in erster Linie die Wissensgenerierung über Ursachen, Formen und Auswirkungen von geschlechtsspezifischer Gewalt sowie anderweitige präventive Maßnahmen.»
2.) Paulina LUTZ und Helena SCHÜTTLER, «Kriminologische Perspektiven auf geschlechtsspezifische Gewalt – Ursachen, Prävalenzen und Ausprägungen»
«Ziel des vorliegenden Beitrages ist es eine Übersicht zu den Themenfeldern geschlechtsspezifischer Gewalt – insbesondere im Zusammenhang mit Verstößen gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht – aus kriminologischer Perspektive zu geben. Es werden Forschungsergebnisse, Prävalenzen sowie aktuelle Entwicklungen zu drei Ausprägungen geschlechtsspezifischer Gewalt im Besonderen diskutiert: zu Partnerschaftsgewalt, Femiziden und Hasskriminalität.»
3.) Jannik M. K. FISCHER, «Traditionelle Männlichkeitsnormen und rechtsextreme Einstellungen bei jungen Menschen: Hegemoniale Männlichkeit(en) als identitärer Kitt zwischen „Volk” und „Geschlecht“»
Der Beitrag untersucht, welche Rolle traditionelle Männlichkeitsnormen für die Entstehung und Verbreitung rechtsextremer Einstellungen spielen. Dabei «können traditionelle Männlichkeitsnormen als Ausdruck von hegemonialen Männlichkeiten besonders effizient mit völkischem Gedankengut verknüpft werden, wodurch es zu einer Vermengung von Aspekten wie Geschlecht und ethnischer Herkunft oder Nationalität im individuellen Selbstkonzept kommen kann – was wiederum eine Radikalisierung in Form der Übernahme rechtsextremer Einstellungen erleichtert».
«Vor dem Hintergrund, dass die Prävalenz traditioneller Männlichkeitsnormen bei jungen Männern eine substantielle Minderheit betrifft, ist hinsichtlich möglicher Präventionsmaßnahmen zu folgern, dass bei ihnen ähnlich emanzipatorische Prozesse in Bezug auf das eigene Geschlecht in Gang gesetzt werden sollten, wie sie auch bei jungen Frauen zu finden sind. Weiterhin ist es eine dauerhafte Aufgabe von Gesellschaft und Politik, alternative, positiv konnotierte Vorstellungen von Männlichkeiten anzubieten und zu stärken.»
4.) Johann ENDRES und Lea-Sarah PÜLSCHEN, «Femizid – Psychologische Erklärungen und Erkenntnisse über die Täter»
«Femizide entweder nur als Taten von „schwachen Männern“, „bösen Männern“ oder „ganz normalen Männern“ zu sehen, ist jeweils stark verkürzend, wird allenfalls einem geringen Teil der Taten gerecht und verfehlt viele wichtige Erklärungsfaktoren.» «Da keines der drei Narrative also alle Fälle von Femiziden zufriedenstellend erklären kann, ist unserer Ansicht nach in der Justizpraxis eine Zusammenschau erforderlich.»
5.) Thomas GÖRGEN Görgen, Chantal HÖHN Höhn und Natalie KÖSPEL, «Sexuelle Gewalt in gendered organisations: eine Hellfeldstudie zu Einrichtungen der stationären Langzeitpflege»
« […] auch in einer institutionellen Lebenswelt, die ganz überwiegend weiblich geprägt ist (auf Seiten der dort Tätigen wie auch auf Seiten der in den Einrichtungen Lebenden) reproduziert sich mit Blick auf Geschlechterverhältnisse ein Bild von sexueller Gewalt, das auch gesamtgesellschaftlich gegeben ist.» Spezifisch in der stationären Langzeitpflege ist, dass sowohl die Wahrscheinlichkeit einer Tatentdeckung als auch die Möglichkeiten einer gerichtsfesten Beweisführung durch multifaktorielle Vulnerabilitätsfaktoren beeinträchtigt werden.
6.) Saskia KRETSCHMER, Renate SCHWARZ-SAAGE, Sabine BURKHARDT und Tim LUKAS, «Blinde Flecken und unsichere Orte. Bedarfe der Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt im öffentlichen Raum»
«Ausgehend vom Gewaltverständnis der Istanbul-Konvention skizziert der Beitrag die vielfältigen Gewaltphänomene gegen Frauen im öffentlichen Raum und setzt diese mit dem erhöhten Unsicherheitsgefühl von Frauen im öffentlichen Raum ins Verhältnis. Darüber hinaus zeigt ein Blick in die kommunale Praxis der Stadt Freiburg, welche Potentiale der Prävention und im Umgang mit Betroffenen Städte und Gemeinden bereits ausschöpfen und welche Defizite auf Seiten der kommunalen Verwaltung noch bestehen.» Dabei werden «Forschungslücken und Bedarfe identifiziert, die es zukünftig in Wissenschaft und Praxis zu berücksichtigen gilt».
7.) Lena FRANKE, Anne-Kathrin KRUG und Anna BUSSMANN-WELSCH, «Rechtsprechungsdatenbank geschlechtsspezifische Gewalt und Rechtsprechungsdatenbank Menschenhandel – Verbesserte Zugänge zu nationaler und internationaler Rechtsprechung»
«Die Rechtsprechungsdatenbanken mit den Schwerpunkten geschlechtsspezifische Gewalt und Menschenhandel tragen dazu bei, eine große Lücke in der Praxis zu schließen und in erster Linie den kostenlosen Zugang zu Rechtsprechung zu verbessern sowie– im Falle der Rechtsprechungsdatenbank ius gender & gewalt – zu weiteren Hintergrundinformationen». Der Beitrag widmet sich der diesbezüglichen Situation in Deutschland und dem Bedürfnis nach und Notwendigkeit von umfassenden, öffentlich zugänglichen Entscheidsammlungen.
8.) Teresa HARRER, «Sexarbeit im Spannungsfeld zwischen sexueller Selbstbestimmung und geschlechtsspezifischer Gewalt»
Der Beitrag untersucht zunächst Bilder und Zuschreibungen, «die einerseits in der gesellschaftlichen Diskussion existieren und medial (re-)produziert werden und die sich andererseits auch in der bisherigen (straf-)rechtlichen Regulierung von Sexarbeit wiederfinden lassen». Es folgen einige kriminologische Überlegungen, «die sich mit Grundtheorien zur Entstehung von Kriminalität sowie dem Prozess des Opferwerdens beschäftigen» sowie ein Abgleich damit, «wie sich unterschiedliche Möglichkeiten des rechtlichen Umgangs mit der Sexarbeit nach den jeweiligen Grundannahmen der Theorien auf diese Prozesse auswirken können». Bei den Grundüberlegungen zu Freiheit und Autonomie zeigt sich sodann, «dass die beiden „Lager“ in der Frage um den „richtigen“ rechtlichen Umgang mit Sexarbeit/Prostitution einen unterschiedlichen Fokus bei Fragen der Selbstbestimmung setzen».
9.) Veronika KRACHER, «Incels, Die Spitze des patriarchalen Eisbergs»
Der Betrag widmet sich den «Incel» (Kurzform für «Involuntary Celibate», «unfreiwillig im Zölibat Lebende»), die sich an Frauen rächen, weil diese sich nicht zu ihnen hingezogen fühlen. Es gibt eine Online-Subkultur von incels, die sich auf eigenen Foren und über traditionelle Social Media-Plattformen wie TikTok oder YouTube radikalisieren, und denen nach wie vor nicht die gebührende gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. «Dies ist darin verwurzelt, dass eine Diskussion über Incels nicht geführt werden kann, ohne über Antifeminismus, Misogynie und patriarchales Anspruchsdenken zu sprechen – und diese sind einer patriarchal strukturierten Gesellschaft immanent, weit über die Incel-Szene hinaus».
10.) Barbara KRAHÉ, Isabell SCHUSTER, and Paulina TOMASZEWSKA, «Men’s Sexual Victimization by Women: A Neglected Problem».
«This chapter presents a summary of past research into men’s sexual victimization by women and women’s sexual aggression perpetration against men. […] The analysis shows that although men’s victimization rates tend to be lower than women’s, the gender difference in prevalence rates is smaller than assumed in the public discussion about sexual aggression. Moreover, longitudinal studies from different countries reveal more similarities than differences in the vulnerability factors of men’s and women’s sexual victimization […]».
11.) Viviana ANDREESCU, «Transgender Experiences with Violent Victimization and their Effects on Mental Health in Adulthood»
«[…], despite its limitations, this is one of the few studies that assessed the long-term impact of childhood polyvictimization and of various types of childhood maltreatment on revictimization and mental health in adulthood using a sample of transgender individuals.»
12.) Barbara BLO?SKA and Katarzyna WITKOWSKA-ROZPARA, «“Crime has no gender?” – Gender aspects of the crime of rape in the case of Poland»
«In 2019, Europol launched the “Crime has no gender” campaign as part of the “EU Most Wanted” project.The leitmotiv of the campaign was the question: Are women equally as capable of committing serious crimes as men?.” “Yes, women commit crimes, but it is difficult to agree with the thesis put forward in the Europol’s campaign that women are just as likely to commit violent crimes as men”. “Sexual crimes, including rape, are acts that undermine a particularly protected good, which is sexual autonomy. The victimization has significant consequences that remain with the victim for life. That is why it is so important to recognize that sexual crimes, including primarily rape, have a gender, because in the vast majority of cases, the perpetrators of this type of crime are men, and the victims are women.»