Überblick über die Rechtsprechung der Gerichte auf Bundesebene zum Gleichstellungsgesetz im Jahr 2024
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Gender Law Newsletter FRI 2025#1, 01.03.2025 - Newsletter abonnieren
SCHWEIZ: GLEICHSTELLUNGSGESETZ
Zusammengestellt und kommentiert von Rosemarie Weibel
Das Recht auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit ist nach wie vor schwierig durchzusetzen, und es bleibt der Eindruck, dass die Kriterien für die Zulassung eines objektiv begründeten Unterschieds gelockert werden.
Andererseits scheint die Aufmerksamkeit der Arbeitgebenden hinsichtlich ihrer Verpflichtung, Fällen von sexueller Belästigung vorzubeugen und einzugreifen, gestiegen zu sein, auch wenn die Qualität der entsprechenden Untersuchungen manchmal zu wünschen lässt. Neue Daten zeigen, dass weiterer Handlungsbedarf[1] besteht. Komplikationen während der Schwangerschaften und Mutterschaftsurlaub können nach wie vor arbeitsrechtlich nachteilige Folgen nach sich ziehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Lohndiskriminierung
2. Abwesenheit infolge Schwangerschaft
3. Sexuelle Belästigung
4. Verschiedenes
5. Die Webseiten sentenzeparita.ch, leg.ch und gleichstellungsgesetz.ch
1. Lohndiskriminierung
Diskriminierung bezüglich Zeitpunkt einer Neueinstufung: Es ist diskriminierend, wenn eine rückwirkende Neueinstufung für Dozent*innen für Informatik, Kommunikation und Verwaltung an einer Berufsschule im Kanton Waadt, einem typischen Frauenberuf, im Gegensatz zu anderen Lehrpersonen einzig für die Zukunft zur Anwendung kommt (vgl. Art. 3 und 6 des Gleichstellungsgesetzes, GlG): Urteil des Bundesgerichts 1C_471/2023 vom 31. Juli 2024, siehe Newsletter 2024#4.
Dieses Urteil betrifft indirekt die Frage der Besoldung der Lehrkräfte für allgemeine Kultur an den nachobligatorischen Schulen und insbesondere der Lehrkräfte für Informatik, Kommunikation und Verwaltung: Mit dem Inkrafttreten der SBFI-Verordnung über die berufliche Grundbildung am 1. Januar 2012 werden sie in dieselbe Klasse wie die Lehrkräfte für allgemeine Kultur eingestuft.
Berücksichtigung von Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub bei der Berechnung eines Bonus: Einigermassen überraschend zumindest in der Begründung ist das Urteil des Bundesgerichts 4A_597/2023 vom 15. Mai 2024 (siehe Newsletter 2024#4): Das Bundesgericht hat nicht nur entschieden, dass Arbeitgebende frei sind, einen Bonus von der effektiven Präsenz abhängig zu machen, sondern auch, dass es in diesem Zusammenhang nicht diskriminierend sei, den Mutterschaftsurlaub von der 9. bis 14. Woche nach der Niederkunft unberücksichtigt zu lassen. Das Beschäftigungsverbot (Art. 35 Abs. 3 ArG) sei auf 8 Wochen beschränkt, und das Bundesgericht teilt die Ansicht der Vorinstanz, wonach es sich – im Vergleich zu anderen unverschuldeten Abwesenheiten von Arbeitnehmenden, die bei der Bemessung der Gratifikation ebenfalls als Kürzungsgrund berücksichtigt werden könnten – nicht rechtfertige, «diese freiwillige Abwesenheit» als anrechenbare Beschäftigungszeit «zu privilegieren». In gleicher Weise befand unser höchstes Gericht, dass die Abwesenheit wegen Schwangerschaft gleich wie die Abwesenheit während Krankheit eines Mannes zu betrachten sei, weshalb keine Geschlechterdiskriminierung vorliege.
Der Bund hat indessen Logib, sein Analyseinstrument der Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern, weiterentwickelt. Nun kann der Vielfalt der Funktionen in bestimmten Unternehmen und Organisationen noch besser Rechnung getragen werden (vgl. ebg.admin.ch). Eine Evaluation dessen, ob die 2020 eingeführte Analysepflicht von Unternehmen mit 100 oder mehr Mitarbeitenden die Korrektur der immer noch bestehenden Lohnungleichheiten weitergebracht hat oder ob einfach mehr Variablen eingeführt wurden, die (geschlechtsspezifische) Lohnunterschiede «erklären» steht meines Wissens noch aus.
2. Abwesenheit infolge Schwangerschaft
Wie das eben erwähnte Urteil des Bundesgerichts 4A_597/2023 vom 15. Mai 2024 zeigt, hat Abwesenheit infolge Schwangerschaft nach wie vor bedeutende nachteilige Folgen. Dies zeigt auch ein Urteil des Bundesgerichts 4A_461/2023 vom 27. März 2024: Das kantonale Gericht entschied gemäss Bundesgericht zu Recht, dass die Arbeitgeberin die Kündigung aufgrund organisatorischer Notwendigkeiten und der Aufrechterhaltung der Qualität der Dienstleistungen für die Kunden angesichts der langen Abwesenheit der Arbeitnehmerin ausgesprochen hatte. Die Betroffene war während der Schwangerschaft 6 Monate lang arbeitsunfähig gewesen. Darauf folgte der Mutterschaftsurlaub sowie ein – bewilligter - unbezahlter Urlaub von 4.5 Monaten. Nach ihrer Rückkehr fand die Klägerin eine Neugestaltung der ihr zugewiesenen Arbeiten vor mit einem weniger interessanten Portefeuille, woraufhin sie schliesslich erkrankte. Das Gleichstellungsgesetz wird nicht einmal thematisiert. Siehe dazu den Beitrag im Newsletter 2024#4.
3. Sexuelle Belästigung
Nicht direkt im Zusammenhang mit dem GlG hatten sich Bundesgericht und Bundesverwaltungsgericht mehrmals mit den Folgen sexueller Belästigung durch Angestellte zu befassen. Hier hat das GlG offensichtlich dazu geführt, dass die Arbeitgebenden vermehrt ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen und Massnahmen gegenüber Belästigern ergreifen, auch wenn das GlG als solches in kaum einem der Urteile Erwähnung findet.
Internes Verfahren: Im Urteil des Bundesgerichts 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 (siehe Newsletter 2024#2, mit Kommentar), hatte das Bundesgericht über die Regeln zu entscheiden, die bei einer internen Untersuchung einzuhalten sind: Der mutmassliche Belästiger hatte geltend gemacht, dass er aufgrund der Art und Weise, wie die Untersuchung durchgeführt worden war, zu Unrecht entlassen wurde und dass er sich nicht wirksam hatte verteidigen können. Das Bundesgericht führt aus, dass eine Kündigung wegen sexueller Belästigung nicht deshalb missbräuchlich ist, weil die interne Untersuchung nicht den Regeln des Strafverfahrens entspricht. Solange eine Kündigung nicht leichtfertig oder ohne vernünftigen Grund ausgesprochen wird, ist sie nicht missbräuchlich.
Bezüglich Zielkonflikt zwischen dem legitimen Selbstverteidigungsrecht des beschuldigten Arbeitnehmers und dem Schutz der mitteilenden Personen genügt es, dass der Beschuldigte mit den Vorwürfen und konkreten Beispielen konfrontiert wird und dazu Stellung nehmen kann. Insbesondere ist keine Konfrontation des Opfers mit dem Täter erforderlich.
In einem anderen Fall (Urteil des BGer 1C_594/2023 vom 4. Juli 2024) führte das Bundesgericht aus, dass Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK zwar mutatis mutandis auch auf Disziplinarverfahren Anwendung findet. Allerdings haben die Vertragsstaaten bei der Umsetzung im Bereich der zivilrechtlichen Streitigkeiten einen größeren Spielraum als bei der strafrechtlichen Verfolgung.
Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte sich mehrmals mit Kündigungen infolge sexueller Belästigung zu befassen:
In seinem Urteil A-4782/2023 vom 22. April 2024 hiess es die Beschwerde eines Beamten gut, dem die Bundesverwaltung fristlos gekündigt hatte. Es befand, dass die geklagten sexuellen Belästigungen nicht genügend bewiesen seien. Das Gericht muss beurteilen, ob das, was die zuständige Behörde zur Begründung der Kündigung aufführt, überzeugend sei. Auch wenn keine absolute Sicherheit verlangt werden kann, darf das Gericht keine ernsthaften Zweifel an der Begründetheit der angeführten Kündigungsgründe haben. Im konkreten Fall war die interne Untersuchung oberflächlich, so dass die Zweifel bezüglich der sexuellen Belästigungen nicht bloss leicht, sondern ernsthaft waren. Das Bundesverwaltungsgericht sprach dem Gekündigten den Lohn bis zum ordentlichen Ablauf der Kündigungsfrist sowie eine reduzierte Entschädigung gemäss Art. 34b Abs. 1 lit. a des Bundespersonalgesetzes zu.
In seinem Urteil A-4951/2022 vom 17. Juni 2024 hingegen bestätigte das Bundesverwaltungsgericht die Kündigung eines eben eingestellten Chefs beim Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), und zwar noch während der Probezeit. Die Vorgesetzten hatten zufällig Kenntnis erhalten von einem Strafverfahren gegen den Beamten bezüglich eines Vorkommnisses im Privatbereich. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, die Persönlichkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu achten und zu schützen. Er muss insbesondere dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht sexuell belästigt werden (Art. 4 Abs. 2 Bst. g BPG; Art. 328 Abs. 1 OR). Aus den erhaltenen Akten geht ein Verhalten des Klägers gegenüber Frauen hervor, dass ihn für eine Führungsposition als Chef von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ungeeignet erscheinen lässt. Die Kündigung während der Probezeit ist somit nicht zu beanstanden.
Am 10. Januar 2025 erging ein weiteres Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (A-4885/2023) bezüglich einer fristlosen Auflösung eines Arbeitsverhältnisses eines langjährigen Mitarbeiters beim Armeestab. Er hatte eine Mitarbeiterin im Lehrverhältnis per WhatsApp-Chatnachrichten sexuell belästigt.
Dem Beschwerdeführer steht infolge der – wenn auch unterdessen geheilten - Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützt auf Art. 34b Abs. 1 Bst. a BPG eine Entschädigung von zwei Bruttomonatslöhnen zu.
Im übrigen schützt das Gericht die fristlose Kündigung. Besonders ins Gewicht fiel dabei, dass die vergangene sexuelle Belästigung einer Lernenden durch einen Arbeitnehmer in besonderem Masse geeignet ist, das Vertrauen der Arbeitgeberin in das künftige pflichtgemässe Verhalten des betreffenden Arbeitnehmers im Umgang mit Lernenden zu erschüttern: «Unter Würdigung sämtlicher Umstände und unter besonderer Berücksichtigung der Eigenschaft der Vorinstanz als Anbieterin der Bildung in beruflicher Praxis stellt sich der Vertrauensbruch im Arbeitsverhältnis mit dem Beschwerdeführer als ausgeprägt und irreparabel dar.» (E.4.5.5). Die Rechtsprechung billigt dem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber eine längere Reaktionszeit zu, so dass auch das Argument, wonach die Arbeitgebende zu lange mit einer Reaktion zugewartet habe, ins Leere greift (E. 5).
Kündigungen infolge sexueller Belästigung (wie Kündigungen wegen Selbstverschuldens überhaupt) haben auch Folgen betreffend den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. In einem Tessiner Fall stellte die Arbeitslosenkasse den Gekündigten wegen eigenen Verschuldens in der Anspruchsberechtigung (Art. 30 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1982 über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung, AVIG) ein, da der Arbeitgeber die Kündigung damit begründete, der Arbeitnehmer habe sich sexuelle Belästigung zuschulden lassen kommen. Die Arbeitslosenkasse hat diese Begründung zu prüfen und darf sich nicht einfach auf die im übrigen widersprüchlichen Angaben des Arbeitgebers stützen (Urteil des Tribunale cantonale delle assicurazioni vom Kanton Tessin 38.2024.2 vom 6. Mai 2024).
4. Verschiedenes
Im Urteil des Bundesgerichts 1C_341/2023 vom 12. Februar 2024 (siehe Newsletter 2024#2) hatte das Bundesgericht Gelegenheit, daran zu erinnern, dass eine Diskriminierung gemäss GlG immer auch eine Persönlichkeitsverletzung darstellt, die Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche begründen kann. Art. 5 Abs. 5 GlG bestimmt denn auch ausdrücklich, dass Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung sowie weitergehende vertragliche Ansprüche vorbehalten bleiben. Die Widerrechtlichkeit (vgl. z.B. Art. 41 OR) liegt dabei genau in der Verletzung des Gleichstellungsgesetzes.
5. Die Webseiten sentenzeparita.ch, leg.ch und gleichstellungsgesetz.ch
Im Verlaufe dieses Jahres 2025 werden die Webseiten mit der Rechtsprechungsübersicht in den drei Landessprachen voraussichtlich unter equality-law.ch zusammengeführt, und zwar unter der Führung der schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragen (SKG).
leg.ch und gleichstellungsgesetz.ch enthielten bisher die Bundesgerichtsurteile sowie weitere kantonale Urteile der betreffenden Sprachregionen, während sentenzeparita.ch nebst den im Tessin publizierten Urteilen des Obergerichts sämtliche Bundesgerichtsentscheide in Sachen GlG (sowie weitere) aufnahm. Die bisher seit 2017 dort publizierten Rechtsprechungsübersichten in italienischer Sprache sind neu auf der Seite der kantonalen Gleichstellungsbeauftragen Tessin abrufbar: ti.ch/ -pari opportunità.
[1] Siehe https://www.ebg.admin.ch/de/nsb?id=103407