Geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Schweizer Ausländerrecht

SCHWEIZ: MIGRATIONSRECHT

2020

Nora GASSNER, Die Ausländergesetzgebung im Lichte der Geschlechtergleichheit, Zürich 2020.

Gastbeitrag von Nora GASSNER

Diese im Rahmen einer Masterarbeit durchgeführte Analyse ergründet die Auswirkungen der rechtlichen Geschlechtergleichstellung auf das Schweizer Migrationsrecht. Mit einem interdisziplinären Ansatz analysiert die Autorin die geschlechtsspezifischen Aspekte des Schweizer Ausländerrechts unter dem Gesichtspunkt der Geschlechtergleichstellung. In der Arbeit wird sowohl die aktuelle Rechtslage analysiert, als auch deren historische Entwicklung aufgezeigt und untersucht.

Die rechtshistorische Auseinandersetzung mit der Schweizer Migrationsgeschichte und die Herausarbeitung der geschlechtsspezifischen Implikationen des fast 75 Jahre geltenden Bundesgesetzes zu Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) geben einen Einblick in das Zusammenspiel zwischen der vorherrschenden Geschlechterhierarchie und den ausländerrechtlichen Bestimmungen. So hatte das, auf patriarchalen Vorstellungen basierende Ehe- sowie Bürgerrechtgesetz direkte Auswirkungen auf das ANAG. Dies führt zur Verankerung von direkten und indirekten Diskriminierungen von Ausländerinnen.
Neben der im Buch dargestellten historischen Analyse, ist für die Gegenwart die geschlechtersensible Rechtsanalyse des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) von besonderer Bedeutung. Die Autorin beleuchtet die geschlechtsspezifischen Dimensionen des geltenden Rechts und die damit verbundenen indirekten geschlechtsspezifischen Diskriminierungspotenziale für Migrantinnen aus Drittstaaten. Beispielsweise beinhalten die restriktiven persönlichen Zulassungsvoraussetzungen für die Zulassung zur Erwerbstätigkeit die Gefahr einer indirekten Benachteiligung von Frauen aus Drittstaaten. Die signifikanten Unterschiede in den geschlechtsspezifischen Zulassungszahlen sprechen für diese Annahme. Während zwei Drittel der männlichen Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Erwerbstätigkeit zugelassen werden, werden rund zwei Drittel der Migrantinnen aus Drittstaaten im Rahmen des Familiennachzugs zugelassen. Dies führt dazu, dass Frauen aus Drittstaaten deutlich öfter nur im Besitz einer abgeleiteten Anwesenheitsbewilligung sind und dementsprechend über einen schwächeren Rechtsstatus verfügen wodurch sich zugleich die geschlechtsspezifische Abhängigkeit verstärkt. Ein Umstand der besonders in Bezug auf die Problematik von häuslicher Gewalt, welche überwiegend Frauen betrifft, prekär ist. Das AIG sieht zwar gemäss Art. 50 AIG einen speziellen Schutzmechanismus für ausländische Betroffene von häuslicher Gewalt vor, jedoch divergiert die Schutzwirkung je nach Nachzugskonstellation und ist mit grossen Anerkennungshürden für Betroffene verbunden. Zum ohnehin schwierigen Lösungsprozess aus gewaltvollen Beziehungen, kommt für Migrantinnen zusätzlich das Risiko des Verlustes ihres Aufenthaltsstatus hinzu. Zudem gibt die Arbeit Einblicke in die Rolle von rechtlichen Normen in der Festschreibung und Reproduktion von geschlechtsspezifischen Rollenbildern und zeigt die Notwendigkeit von geschlechterfokussierten Analysen der Gesetzesgrundlagen und der Rechtspraxis auf. Gerade die rechtliche Ausgestaltung des Familiennachzugs basiert auf einem traditionell heteronormativen Familienbild und klassischen Vorstellungen zur geschlechtsspezifischen Rollenverteilung.

Verschärfung der prekären Rechtslage aufgrund der Corona-Pandemie
Durch die aktuelle COVID-19-Pandemie und deren im Moment noch nicht abschätzbaren Langzeitfolgen sind Migrant*innen mit zusätzlichen Rechtsunsicherheiten konfrontiert. Dies birgt die Gefahr, dass sich bestehende Ungleichheiten zusätzlich verschärfen. Denn neben den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, stehen Migrant*innen zusätzlich unter dem massiven Druck des Ausländerrechts. Im Zusammenhang mit den Auswirkungen von COVID-19 stellen sich viele existentielle Fragen für Migrant*innen bezüglich ihres weiteren Aufenthaltsrechts in der Schweiz. Beispielsweise könnte ein pandemiebedingter Verlust der Erwerbstätigkeit oder ein Sozialhilfebezug zu einer Zurückstufung oder Nichtverlängerung des ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus führen. Im Hinblick auf die geschlechtsspezifischen Dimensionen des AIG, ist hier insbesondere auf die von Expert*innen vielfach geäusserte Sorge bezüglich des Anstieges von häuslicher Gewalt aufgrund der Eindämmungsmassnahmen wie Quarantäne, Isolation und «social distancing», hinzuweisen. Expert*innen gehen langfristig von einem deutlichen Anstieg häuslicher Gewalt aus, wobei Migrantinnen aus Drittstaaten mit einem abgeleiteten Aufenthaltsstatus schon vor Ausbruch der Pandemie eine besonders vulnerable Gruppe darstellten.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) empfiehlt in einer aktuellen Weisung den Kantonen die besonderen Umstände zu berücksichtigen und demensprechende Nachteile für Betroffene zu vermeiden (S. 10, Abs. 3.3). Aufgrund des verbleibenden hohen Ermessenspielraumes der Kantone bedeutet diese Empfehlung für Migrant*innen keine tatsächliche Rechtssicherheit und trägt zudem angesichts potentiell unterschiedlicher Umsetzung eine Gefahr für die Gewährleistung der Rechtsgleichheit. Positiv zu beurteilen ist die Erklärung der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, wonach diese sicherstellen möchte, dass Migrant*innen aufgrund vom pandemiebedingter Arbeitslosigkeit oder pandemiebedingtem Sozialhilfebezug keine ausländerrechtlichen Nachteile entstehen. Konkrete Verordnungen und Richtlinien zur Gewährleistung einer einheitlichen Umsetzung wurden jedoch bislang nicht verabschiedet.

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