Die Verantwortungsgemeinschaft – Vorschlag zur Regelung von Care-Arbeit im Schweizer Zivilrecht

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Gender Law Newsletter FRI 2024#4, 01.12.2024 - Newsletter abonnieren

SCHWEIZ: ZIVILRECHT (GASTBEITRAG)

Gastbeitrag von Dr. Saskia Thomi
 
Der vorliegende Beitrag dient als Denkanstoss zur zivilrechtlichen Berücksichtigung von Care-Arbeit. Er stützt sich auf die Dissertation der Autorin: Saskia THOMI, Die Verantwortungsgemeinschaft, Vorschlag zur Regelung von Care-Arbeit im Schweizer Zivilrecht, Diss. Freiburg i.Ü., Zürich 2024 (nachstehend mit Nachnamen der Autorin und Randziffern zitiert).

Petra und Sira sind ein Paar. Als Sira an multipler Sklerose erkrankt, reduziert Petra ihre Tätigkeit als Schreinerin von 100% auf 50%, um Sira zu pflegen. Sie leistet folglich Care-Arbeit. Da Sira gleichzeitig zu Petra in deren 3.5-Zimmer-Mietwohnung zieht und sich an der Miete beteiligt, kommt Petra mit ihrem neuen monatlichen Nettolohn von CHF 2'600.- statt CHF 5'200.- über die Runden[1]


Wären Sira und Petra verheiratet, würden sie von einer Vielzahl gesetzlicher Schutzbestimmungen profitieren:

a. Eheleute haben gemeinsam für den Unterhalt der Familie aufzukommen (Art. 163 des Zivilgesetzbuches, nachstehend "ZGB"). Diese Unterhaltspflicht überdauert unter Umständen die Ehe (Art. 125 ZGB). Petra wäre damit gegen das finanzielle Risiko, das sie zugunsten der Care-Arbeit auf sich nimmt, abgesichert.

b. Durch die Errungenschaftsbeteiligung findet ein güterrechtlicher Ausgleich zwischen den Eheleuten statt (Art. 181 ff. ZGB). Wenn beispielsweise Siras Kosten sinken, da sie sich die Mietkosten nun mit Petra teilt und sie deshalb von ihrer monatlichen IV-Rente etwas zur Seite legen kann, würde Petra von den Ersparnissen profitieren, die sie durch ihre Arbeit und ihren finanziellen Beitrag ermöglicht hat.

c. Der Schutz der Familienwohnung schützt die Wohnungsinteressen der Eheleute (Art. 169 ZGB und Art. 266m f. des Obligationenrechts, nachstehend "OR"). Das Mietverhältnis kann folglich nicht durch eine Person im Alleingang aufgelöst werden und bei der Auflösung der Wohngemeinschaft können wichtige Gründe für die Zuweisung der Familienwohnung geltend gemacht werden.

d. Eheleute haben ein gegenseitiges, pflichtteilsgeschütztes Erbrecht (Art. 462 ZGB i.V.m. Art. 471 ZGB). Sira und Petra müssten folglich nicht aktiv werden, um die Berücksichtigung ihrer Partnerin nach dem Tod sicherzustellen.

e. Neben diesen zivilrechtlichen Folgen bringt die Ehe zahlreiche weitere
Folgen mit sich wie beispielsweise im Sozialversicherungsrecht, in Vertretungs- und Informationsangelegenheiten sowie in Kinderbelangen (vgl. THOMI, Rz. 115).

Milliarden Care-Arbeitsstunden werden in der Schweiz jedes Jahr geleistet. Bis auf einige Ausnahmebestimmungen wie die Regelung des Betreuungsunterhalts im Kindesrecht (Art. 285 Abs. 2 ZGB) ist Care-Arbeit gesetzlich nicht geregelt. Da Sira und Petra nicht verheiratet sind, finden kaum gesetzliche Bestimmungen auf ihre Beziehung Anwendung. Das Gesetz schützt Petra nicht, obwohl sie für die Care-Arbeit erhebliche finanzielle Risiken und Einbussen auf sich nimmt (vgl. THOMI, Rz. 102 ff.).

Die gesetzliche Nichtberücksichtigung von Care-Arbeit betrifft in erster Linie Frauen, da diese den Grossteil der Care-Arbeit erbringen, während Männer mehr Erwerbsarbeit leisten. Care-Arbeit unterscheidet sich von der Erwerbsarbeit durch die Unentgeltlichkeit und die Intention, mit der die Arbeit erbracht wird. Deshalb lässt sich aus dem Diskriminierungsverbot nach Art. 8 Abs. 2 und 3  der Bundesverfassung kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf gesetzliche Regelung der Care-Arbeit ableiten. Mit einer gesetzlichen Regelung von Care-Arbeit würde die Gesetzgeber:in die Gleichstellung von Männern und Frauen jedoch begünstigen (vgl. THOMI, Rz. 157 ff.).

Care-Arbeit zeichnet sich durch Unentgeltlichkeit aus. Oft reduzieren Care-Arbeit leistende Personen ihre Erwerbstätigkeit oder geben diese gar vollständig auf. Damit erleiden sie finanzielle Nachteile und Risiken. Das Institut der Verantwortungsgemeinschaft, das zur Regelung von Care-Arbeit im Zivilrecht vorgeschlagen wird, bietet zivilrechtliche Schutzbestimmungen für Care-Arbeit leistende Personen.

Die Verantwortungsgemeinschaft gibt es de lege lata (noch) nicht. Für einen angenehmen Lesefluss verzichte ich in den nächsten Zeilen auf Modalverben.

Für die Entstehung einer Verantwortungsgemeinschaft ist Care-Arbeit vorausgesetzt. Care-Arbeit meint unentgeltlich geleistete Arbeit in Näheverhältnissen. Ein Näheverhältnis liegt vor, wenn sich Menschen persönlich besonderes nahe stehen und ihre Beziehung in der Intensität mit der unter Eheleuten oder Eltern und ihren Kindern vergleichbar ist. Weiter ist vorausgesetzt, dass die Care-Arbeit leistende Person zugunsten der Care-Arbeit ihre Erwerbstätigkeit reduziert, aufgibt oder nicht (wieder) aufnimmt. Personen, die sich gemeinsam in einer Verantwortungsgemeinschaft befinden, werden Verantwortliche genannt (vgl. THOMI, Rz. 250 ff.).

Petra und Sira sind in einer romantischen Beziehung; sie stehen sich persönlich besonders nahe. Ihre Beziehung ist in ihrer Intensität mit der unter Eheleuten vergleichbar. Petra hat ihre Erwerbsarbeit reduziert, um Sira zu pflegen. Zwischen ihnen besteht folglich eine Verantwortungsgemeinschaft.

Die Verantwortungsgemeinschaft wirkt sich nicht auf das Vermögen der Verantwortlichen aus. Unter Umständen besteht unter Verantwortlichen jedoch eine einfache Gesellschaft (vgl. Art. 530 ff. OR; THOMI, Rz. 337 ff.).

Care-Arbeit leistende Verantwortliche haben aufgrund der finanziellen Nachteile, die sie zugunsten der Care-Arbeit in Kauf nehmen, Anspruch auf Verantwortungsunterhalt, der sich am Betreuungsunterhalt orientiert. Ein Unterhaltsanspruch besteht, falls eine Person aufgrund der Care-Arbeit ihr familienrechtliches Existenzminimum nicht decken kann. In der Höhe ist der Unterhaltsanspruch wie der Betreuungsunterhalt auf das familienrechtliche Existenzminimum beschränkt (vgl. THOMI, Rz. 353 ff.).

Petra hat zugunsten der Care-Arbeit ihre Erwerbsarbeit reduziert und erzielt neu ein Einkommen von CHF 2'600.- im Monat. In der Annahme, dass ihr familienrechtliches Existenzminimum CHF 2'800.- beträgt, hat sie einen monatlichen Unterhaltsanspruch von CHF 200.-, den Sira ihr schuldet, wenn es ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erlaubt.

Wohnen die Verantwortlichen zusammen, ist die gemeinschaftliche Wohnung wie die Familienwohnung von Eheleuten geschützt (vgl. Art. 169 ZGB i.V.m. Art. 266m f. OR). Eine Kündigung ist folglich nur gültig, wenn die Verantwortlichen dieser zustimmen beziehungsweise wenn die Vermieter:in das Kündigungsschreiben den Verantwortlichen separat zustellt (vgl. THOMI, Rz. 388 ff.).

Da Sira zu Petra in die Wohnung gezogen ist, lautet der Mietvertrag nur auf Petras Namen. Trotzdem kann Petra die Wohnung nicht ohne Siras Einwilligung kündigen.

Die Verantwortungsgemeinschaft wird mit dem Ende der Care-Arbeit oder des Näheverhältnisses oder durch einseitige Erklärung aufgelöst (vgl. THOMI, Rz. 408 ff.). Die Auflösung wirkt sich grundsätzlich nicht auf das Vermögen der Verantwortlichen aus. Besteht eine einfache Gesellschaft, kann diese jedoch gleichzeitig wie die Verantwortungsgemeinschaft aufgelöst werden, wobei hierfür die Bestimmungen des Gesellschaftsrechts massgeblich sind (Art. 530 ff. OR; vgl. THOMI, Rz. 448 ff.).

Der Unterhaltanspruch überdauert unter Umständen die Verantwortungsgemeinschaft, damit sich die Verantwortlichen an die neue Situation gewöhnen können. Wie der nacheheliche Unterhaltsanspruch ist er aber zeitlich befristet (vgl. THOMI, Rz. 465 ff.).

Hört Petra auf, Sira zu pflegen, wird ihre Verantwortungsgemeinschaft aufgelöst. Petra kann folglich wieder zu 100 % als Schreinerin arbeiten. In der Schreinerei, in der sie arbeitet, ist es ihr jedoch nicht möglich, sofort wieder auf Vollzeit umzustellen. Deshalb wird ihr eine Übergangsfrist von drei Monaten gewährt, um eine geeignete Stelle zu finden. Der Unterhaltsanspruch besteht folglich noch während drei Monaten, nachdem die Verantwortungsgemeinschaft aufgelöst wurde.

Wird mit der Verantwortungsgemeinschaft auch die Wohngemeinschaft aufgelöst, kann das Mietverhältnis auf den Verantwortliche:n übertragen werden, der wichtige Gründe dafür geltend macht. Bei Wohneigentum kann ein befristetes Wohnrecht vorgesehen werden (vgl. Art. 121 ZGB; THOMI, Rz. 481 ff.).

Durch die multiple Sklerose ist Sira in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Sie ist deshalb auf besondere Vorrichtungen in ihrer Wohnung angewiesen. Die Suche nach einer neuen Wohnung ist für sie deutlich schwieriger als für Petra. Aus diesem Grund könnte das Mietverhältnis auf sie übertragen werden, obwohl Petra den ursprünglichen Mietvertrag abgeschlossen hat.

Care-Arbeit wird in unterschiedlichen Beziehungsformen geleistet. Aufgrund dieser Heterogenität der Verantwortungsgemeinschaften besteht grundsätzlich kein gesetzliches Erbrecht für Verantwortliche. Allerdings rechtfertigt sich ein Abgeltungsanspruch, der sich am österreichischen Pflegevermächtnis orientiert (vgl. THOMI, Rz. 491 ff.).

Sira stirbt, ohne eine letztwillige Verfügung zu hinterlassen. Ihre gesetzlichen Erb:innen sind ihre Geschwister, mit denen sie sich jeweils an Weihnachten und an Geburtstagen getroffen hat. Petra hat durch ihre Care-Arbeit wesentlich zur Vermögenserhaltung von Sira beigetragen. Sie soll deshalb eine finanzielle Anerkennung erhalten.

Aufgrund des Prinzips der Parteiautonomie sind die Bestimmungen über die Care-Arbeit flexibel. Die gesetzlichen Wirkungen und Folgen der Verantwortungsgemeinschaft können durch Vereinbarung abgeändert werden. Ausserdem kann eine Verantwortungsgemeinschaft ohne Care-Arbeit entstehen, wenn die Parteien von sich aus füreinander Verantwortung übernehmen möchten und dies so vereinbaren.

Mit der Verantwortungsgemeinschaft wird Care-Arbeit im Zivilrecht anerkannt, gefördert und geschützt. Darüber hinaus sind weitere gesetzliche Regelungen insbesondere im Sozialversicherungsrecht angezeigt. Es ist Aufgabe der Politik, die finanzielle Sicherheit von Care-Arbeit leistenden Personen zu gewährleisten. Meine Dissertation soll als Vorarbeit und Denkanstoss dienen, damit dieser längst überfällige politische Schritt erfolgen kann.
 
[1] Salarium – Statistischer Lohnrechner 2022; monatlicher Bruttolohn für Bau- und Ausbaufachkräfte sowie verwandte Berufe, ausgenommen Elektriker in der Region Mittelland (BE, FR, SO, NE, JU). 


Direkter Zugang zur Dissertation (https://suigeneris-verlag.ch)