Das verfassungsrechtliche Verbot der Geschlechtsdiskriminierung als Verbot der hetero-sexistischen Diskriminierung

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Gender Law Newsletter FRI 2025#1, 01.03.2025 - Newsletter abonnieren

SCHWEIZ: GRUNDRECHTE

Gastbeitrag von Dr. iur. Elisabeth Joller, Rechtsanwältin

Im vorliegenden Gastbeitrag wird die herkömmliche Dogmatik zum Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Art. 8 Abs. 2 und 3 BV einer zweifachen Kritik unterzogen: Einerseits wird umrissen, welche Defizite die herrschenden verfassungsrechtlichen Konzeptionen von Diskriminierung aufweisen, um den realen gesellschaftlichen Verhältnissen von Ungleichheit grundrechtlich adäquat zu begegnen. Andererseits wird aufgezeigt, inwiefern das vorherrschende Verständnis von «Geschlecht» selbst dazu beiträgt, Diskriminierung zu perpetuieren. Ausgehend von herkömmlichen Verständnissen und der daran geübten Kritik wird ein Modell des Geschlechtsdiskriminierungsverbotes vorgeschlagen, das tatsächliche gesellschaftliche Ungleichheit zum Ausgangspunkt nimmt – und dadurch grössere Wirksamkeit dagegen verspricht. Zum einen geht es dabei um eine Neuorientierung dessen, was Diskriminierung im verfassungsrechtlichen Kontext eigentlich bedeutet. Andererseits – und das eine geht Hand in Hand mit dem anderen – wird ein Verständnis von «Geschlecht» vorgeschlagen, das «Geschlecht» nicht als Merkmal im Sinne einer natürlichen Eigenschaft betrachtet, sondern im Anschluss an die Geschlechterforschung vornehmlich sozialkonstruktivistisch und machttheoretisch begreift.

Der Beitrag stützt sich auf die Dissertation der Autorin:
Elisabeth JOLLER, Das verfassungsrechtliche Verbot der Geschlechtsdiskriminierung als Verbot der sexistischen Diskriminierung, Eine Studie über Art. 8 Abs. 2 und 3 der schweizerischen Bundesverfassung, Diss. Freiburg 2024, Bern 2024.

Aufgrund des Formats wird auf Fussnoten weitgehend verzichtet. Stattdessen erfolgen Verweise auf die Fundstellen in der Dissertation mit Nachnamen der Autorin und Seitenzahlen.

I.   Der Begriff der Diskriminierung

I.1.  Die Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 3 BV

[1] Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird seit dem Jahr 1981 ausdrücklich durch die Bundesverfassung garantiert. Das Bundesgericht verstand und versteht den Satz «Mann und Frau sind gleichberechtigt» in Art. 8 Abs. 3 der Bundesverfassung im Wesentlichen als Differenzierungsverbot: Frauen und Männer sind durch die Rechtsordnung gleich zu behandeln. Rechtliche Differenzierungen anhand des Geschlechts sind nach der Rechtsprechung grundsätzlich nur noch zulässig, wenn «biologische oder funktionale Unterschiede» eine Gleichbehandlung «absolut ausschliessen» (vgl. Joller, S. 48 ff.).

[2] Der Anspruch auf formalrechtliche Gleichbehandlung stellte eine wichtige Errungenschaft der Frauenrechtsbewegung dar. Rechtliche Rollenzuschreibungen waren zu Beginn der 1980er-Jahre in der Rechtsordnung noch weit verbreitet; man denke nur an das Familienrecht, das der Ehefrau ausdrücklich die Aufgabe der Hausfrau zuwies und dem Ehemann als «Oberhaupt der Familie» das Letztentscheidungsrecht in familiären Belangen einräumte (vgl. Joller, S. 40 ff.). Solche Ungleichbehandlungen waren nun nicht mehr verfassungskonform und mussten beseitigt werden.

[3] Kritische feministische Jurist*innen zeigten allerdings schon früh auf, dass das formelle Gleichheitsverständnis, dem das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 3 BV bis heute weitestgehend folgt, für die Herstellung tatsächlicher Gleichheit unzulänglich ist und in vielen Fällen dem Ziel der tatsächlichen Gleichstellung sogar zuwiderläuft. Die Kritik geht dahin, dass eine formelle Gleichheitskonzeption auf eine Angleichung an den männlichen Standard hinausläuft, dass sie gezielte Förderungsmassnahmen zur Bekämpfung tatsächlicher Ungleichheit erschwert oder verunmöglicht, und dass sie letztlich an den gesellschaftlichen Strukturen der Ungleichheit nichts ändert (vgl. Joller, S. 143 ff.). Die Bilanz der Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 3 BV ist aus feministischer Sicht denn auch ernüchternd: Zwar konnten vor Bundesgericht vereinzelte Erfolge erkämpft werden, doch hat sich Art. 8 Abs. 3 BV für die Bekämpfung von struktureller Ungleichheit auf dem rechtlichen Weg bisher als weitgehend unwirksam erwiesen. So hat das Bundesgericht die Rechtsfigur der indirekten Diskriminierung ausserhalb des Bereichs der Lohngleichheit (Art. 8 Abs. 3 Satz 3 BV) bis heute nicht anerkannt; es hat wiederholt festgehalten, dass formal geschlechtsneutrale Rechtssätze und -praxen nicht gegen Art. 8 Abs. 3 BV verstossen, auch wenn die damit verbundenen nachteiligen Rechtsfolgen weit überwiegend Frauen treffen (vgl. Joller, S. 117 ff.). Geschlechterquoten sind mit einer hohen Rechtfertigungslast verbunden und nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig (vgl. Joller, S. 70 ff.). Art. 8 Abs. 3 BV wurde zudem (von Männern) immer wieder mit Erfolg gegen Rechtssätze angerufen, die Frauen aufgrund der ihnen gesellschaftlich und ursprünglich auch rechtlich zugewiesenen Rolle bei der Kinderbetreuung und der Haushaltsarbeit gewisse Rechte einräumten oder sie von gewissen Pflichten ausnahmen. Zumindest teilweise führte dies dazu, dass die ökonomische Marginalisierung von Frauen noch zunahm. Illustrieren lässt sich dies am aktuellen Beispiel der Witwenrente: Der Entwurf des Bundesrates[1] zur Umsetzung der vom EGMR verlangten[2] Beseitigung der formellen Ungleichbehandlung der Geschlechter bei der Hinterlassenenrente[3] sieht vor, dass die bisherigen Ansprüche von verwitweten Frauen reduziert werden. Da Frauen auch heute noch weitaus mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten[4] und durchschnittlich ein wesentlich geringeres Erwerbseinkommen aufweisen als Männer[5], ist absehbar, dass dies zu einer Zunahme des «gender income gap» und des Anteils armutsbetroffener Frauen führen wird.

I.2. Die Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 2 BV

[4] Im Bereich von Art. 8 Abs. 2 BV vertritt das Bundesgericht ein anderes Gleichheitsverständnis als im Bereich von Art. 8 Abs. 3 BV. Die materielle Gleichheit wird wesentlich stärker betont und es ist namentlich unbestritten, dass Art. 8 Abs. 2 BV auch ein Verbot der indirekten Diskriminierung umfasst. Obgleich die Konzeption des Diskriminierungsverbots in der Rechtsprechung des Bundesgerichts in wesentlichen Aspekten noch unklar erscheint (vgl. Joller, S. 205 ff., 242 f.), lässt sich in der Rechtsprechung das Potential für eine Entwicklung in Richtung eines materialen Diskriminierungsbegriffs erblicken, der verschiedene, zueinander durchaus in einem Spannungsverhältnis stehende und nicht zwingend die gleiche Schutzrichtung aufweisende materielle Teilgehalte umfasst. Die Formulierungen des Bundesgerichts zur direkten Diskriminierung (siehe Joller, S. 214 ff.) könnten als symmetrisch ausgestaltetes Verbot der Stereotypisierung gedeutet werden, während in seinen Erwägungen zur indirekten Diskriminierung (siehe Joller, S. 226 ff.) ein asymmetrisches Verbot der Schlechterstellung von Personen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnis benachteiligt werden, zum Ausdruck kommt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Diskriminierung durch Gleichbehandlung (siehe Joller, S. 232 ff.) begründet einerseits ein Verbot des Zwangs zur Angleichung von Angehörigen gesellschaftlicher Minderheiten oder politisch entmachteter Gruppen an die bestimmende Mehrheit und andererseits ein Verbot der Ausgrenzung durch die Setzung einer bestimmten gesellschaftlichen Norm und die fehlende Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen, die von dieser Norm abweichen (zum Ganzen: Joller, S. 242 ff., 442).

[5] Diese Teilgehalte werden in der Rechtsprechung allerdings erst angedeutet; ob sich die Rechtsprechung tatsächlich in diese Richtung entwickeln wird, ist ungewiss. Die Aussicht auf eine solche Entwicklung wird dadurch getrübt, dass in der herrschenden Rechtsprechung und Lehre unklar bleibt, was den Unrechtsgehalt einer Diskriminierung letztlich ausmacht. Der Unrechtsgehalt einer Diskriminierung wird gemeinhin unter Rückgriff auf die Menschenwürde umschrieben (vgl. Joller, S. 157 ff., 182 ff.). Die Verknüpfung mit der Menschenwürde verleiht dem Diskriminierungsverbot einen gewissen substantiellen Gehalt: Untersagt ist nicht bloss die Anknüpfung an ein bestimmtes Merkmal, sondern ein bestimmtes Behandlungsergebnis, nämlich eine Verletzung der Menschenwürde. Allerdings weist auch dieses Gleichheitsverständnis wesentliche Schwachpunkte auf. Die zentrale Problematik liegt darin, dass es sich bei der Menschenwürde um einen hochgradig inhaltsoffenen Rechtsbegriff handelt. Es bleiben erhebliche Unklarheiten, wie der Unrechtsgehalt einer bestimmten rechtlichen Behandlung im Lichte des Diskriminierungsverbots zu bestimmen ist. Auf welches verpönte Behandlungsergebnis das Diskriminierungsverbot letztlich abzielt, bleibt dadurch im Dunkeln (vgl. Joller, S. 189, 294 f., 441).

I.3. Gleichheit, realistisch verstanden!

[6] In meiner Dissertation plädiere ich in Anlehnung an Susanne Baer für eine Konzeption des Diskriminierungsverbots als Verbot der Hierarchisierung.  Bei diesem Verständnis werden die gesellschaftlichen Missstände zum Ausgangspunkt genommen, zu deren Bekämpfung das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung historisch geschaffen wurde. Beim Verbot der Diskriminierung geht es nicht einfach um unsachliche Ungleich- oder Gleichbehandlungen; es stellt eine verfassungsrechtliche Antwort auf spezifische Unrechtserfahrungen dar, die aus gesellschaftlichen Strukturen der Ungleichheit resultieren, in denen Menschen als grundlegend «anders» markiert und abgewertet, marginalisiert und verfolgt (oft auch physisch vernichtet) werden (vgl. Joller, S. 244 sowie ff.). Die einzelnen verfassungsrechtlichen Diskriminierungstatbestände – also Diskriminierung «wegen» der «Rasse», des «Geschlechts», der «Behinderung» etc. – beziehen sich dann nicht auf «Merkmale» im Sinne von persönlichen Eigenschaften, sondern bezeichnen in den Worten Susanne Baers jeweils eine «bestimmte gesellschaftliche Praxis [der Hierarchisierung], deren genaue Gestalt und Wirkung je im Einzelfall geklärt werden muss»[6]. Dementsprechend lautet die zentrale Frage bei der Anwendung des Diskriminierungsverbots nicht, ob sich Menschen aufgrund ihrer «Merkmale» hinreichend stark voneinander unterscheiden, um eine rechtlich unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen, sondern ob das Recht bestimmte soziale Asymmetrien verfestigt oder unangetastet lässt. Das Verständnis des Diskriminierungsverbots als Verbot der Hierarchisierung ist insofern ein realistisch verstandenes Recht auf materielle Gleichheit, als es den Blick auf tatsächliche gesellschaftliche Ungleichheit richtet – und damit auch grössere Wirksamkeit dagegen verspricht. Die konkreten Auswirkungen dieser Konzeption auf die dogmatische Struktur des Diskriminierungsverbots werden weiter unten noch zu skizzieren sein.

II. Der Begriff des Geschlechts

II.1. Der Begriff des Geschlechts in Rechtsprechung und Lehre

[7] Das Bundesgericht setzt den Begriff des Geschlechts bzw. die Kategorien «Mann» und «Frau», derer sich die Verfassung in Art. 8 Abs. 2 und 3 BV bedient, in der Regel als nicht weiter erklärungsbedürftig voraus. In weiten Teilen der Rechtsprechung spiegelt sich ein Alltagsverständnis von «Geschlecht», das von zwei klar abgrenzbaren biologischen Geschlechtern ausgeht. Die Existenz von trans*[7] und intergeschlechtlichen Menschen wird zwar anerkannt, doch bleibt der Zugang des Bundesgerichts zu «Geschlecht» ein rein biologisch-medizinischer. Ansätze, die «Geschlecht» im Anschluss an die Geschlechterwissenschaften als Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen verstehen, hat das Bundesgericht in BGE 145 II 153 betreffend die Anwendbarkeit des Gleichstellungsgesetzes[8] auf die Diskriminierung «aufgrund der sexuellen Orientierung» ausdrücklich zurückgewiesen (zum Ganzen: Joller, S. 309 ff.).

[8] Dies wirkt sich auf die Zuordnung unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen zu verfassungsrechtlichen Diskriminierungstatbeständen aus. Nach der herrschenden Rechtsprechung und Lehre nimmt Art. 8 Abs. 3 BV im Verhältnis zu Art. 8 Abs. 2 BV die Funktion einer lex specialis ein, indem er das allgemeinere Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Bezug auf Frauen und Männer konkretisiert. Das Verbot der Diskriminierung «wegen des Geschlechts» in Art. 8 Abs. 2 BV schützt nach diesen Auffassungen primär trans* und intergeschlechtliche Menschen. Die sexuelle Orientierung wird dem Kriterium der «Lebensform» in Art. 8 Abs. 2 BV zugewiesen oder als ungeschriebener Diskriminierungstatbestand anerkannt (zum Ganzen: Joller, S. 353 ff.).

[9] Dies hat weitreichende Auswirkungen auf das Schutzniveau, das Art. 8 Abs. 2 und 3 BV unterschiedlichen Menschen bietet:
  • Wie gezeigt ist der Diskriminierungsbegriff des Bundesgerichts bei Art. 8 Abs. 3 BV ein anderer als bei Art. 8 Abs. 2 BV und umfasst (ausser im Bereich der Lohngleichheit) namentlich nicht das Verbot der indirekten Diskriminierung. Der subjektivrechtliche Gehalt von Art. 8 Abs. 3 BV erschöpft sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts im Wesentlichen in einem Verbot der formalrechtlichen Differenzierung. Da unzulässige rechtliche Differenzierungen zwischen Frauen und Männern heute weitgehend aus der Rechtsordnung verschwunden sind, kommt Art. 8 Abs. 3 BV kaum mehr normative Kraft zu (vgl. Joller, S. 357 ff.).
  • Auf der anderen Seite lässt das herrschende Verständnis von Art. 8 Abs. 2 BV direkte Ungleichbehandlungen eher zu als im Bereich von Art. 8 Abs. 3 BV; es wird deswegen vom Bundesgericht etwa nicht als Diskriminierung anerkannt, dass das schweizerische Personenstandsrecht bei der Registrierung des Geschlechts nur die Optionen «weiblich» und «männlich» zulässt und keine adäquate Option für Menschen mit einer nicht binären Geschlechtsidentität (mit oder ohne Variante der biologischen Geschlechtsentwicklung) bereithält[9].
  • Schliesslich wirkt sich das Verständnis von «Geschlecht» in der Verfassung auch auf den einfachgesetzlichen Diskriminierungsschutz aus. Da die Diskriminierung von homosexuellen Menschen nicht dem verfassungsrechtlichen Diskriminierungstatbestand der Diskriminierung «wegen des Geschlechts» zugeordnet wird, stellt sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auch keine Geschlechtsdiskriminierung im Sinne des Gleichstellungsgesetzes dar (vgl. Joller, S. 364 f.).
[10] Das herrschende Verständnis von «Geschlecht» zwingt Rechtsanwender*innen somit zur Zuteilung von Menschen in starre Kategorien und führt zu einem ungleichen Schutzniveau. Dies läuft dem Ziel des Diskriminierungsverbots, hierarchisierende Zuschreibungen und damit verbundene gesellschaftliche Ungleichheit abzubauen, zuwider.

II.2. Diskriminierung «wegen des Geschlechts» als (hetero?)sexistische Diskriminierung

[11] Im vorherigen Abschnitt wurde dargelegt, dass die Rechtsprechung und weite Teile der Lehre soziale Konstruktionsprozesse bei der Definition von «Geschlecht» weitgehend ausser Acht lassen und eine biologistische Konzeption von «Geschlecht» im Sinne einer natürlichen Eigenschaft vertreten. Bei einem Verständnis des Diskriminierungsverbots als Verbot der Hierarchisierung beziehen sich einzelne verfassungsrechtlichen Diskriminierungstatbestände demgegenüber wie gezeigt nicht auf «Merkmale» im Sinne von persönlichen Eigenschaften, sondern bezeichnen jeweils eine bestimmte gesellschaftliche Praxis der Hierarchisierung. In der deutschen Lehre hat sich für diese Ansätze der Begriff des postkategorialen Antidiskriminierungsrechts etabliert (siehe dazu Joller, S. 245 ff.).

[12] Die konkrete gesellschaftliche Dynamik der Hierarchisierung, auf die der Begriff des «Geschlechts» bzw. das Wortpaar «Mann und Frau» in Art. 8 Abs. 2 und 3 BV verweist, ist der Sexismus. Dieser beruht auf der Einteilung von Menschen in starre Geschlechterkategorien und den damit verbundenen Zuschreibungen und Erwartungen. Sexismus als gesellschaftliches System der Dominanz manifestiert sich durch die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Anerkennung, Privilegien und Macht entlang den Geschlechterlinien. Die hierarchisierende Dynamik wirkt dabei in zweifacher Weise: Einerseits werden Frauen in der binären Oppositionierung von «weiblich» und «männlich» sexualisiert und abgewertet; andererseits werden an die Geschlechtskategorien spezifische Erwartungen geknüpft und mit Missachtung gestraft, wer diesen Erwartungen nicht entspricht (vgl. Joller, S. 271 ff.).

[13] Dieses Verständnis von «Geschlecht» liegt mit den Erkenntnissen der Geschlechterforschung auf einer Linie. «Geschlecht» wird in den Sozialwissenschaften heute vornehmlich als gesellschaftliche Konstruktion begriffen, die durch alltägliche Interaktionen (doing gender) der beteiligten Akteur*innen bzw. diskursiv durch die Anrufung von Geschlechternormen hergestellt wird. Dementsprechend wird der Begriff des «Geschlechts» in der neueren juristischen Lehre weniger als biologische Gegebenheit denn als Geflecht von (Geschlechter?)Normen verstanden. In der Schweiz breit rezipiert wurde insbesondere die These von Laura Adamietz, wonach «Geschlecht» im Kontext des Antidiskriminierungsrechts als Erwartung zu fassen ist. Ausgehend von der Feststellung, dass derzeit sowohl «Gesellschaft» als auch «Recht» Erwartungen aufstellen, sich so zu verhalten, wie es den Mitgliedern der zugeordneten (Geschlechts-)Gruppe entspricht, verlangt Adamietz, dass das Recht zum einen selber keine Erwartungen stellen darf, und zum anderen Menschen aus Verhaltenszwängen befreien muss, denen sie wegen gesellschaftlicher, individueller, struktureller, bewusster oder unbewusster Erwartungen unterliegen. Als unzulässig gilt dann die Erwartung, dass die Geschlechtsidentität dem bei der Geburt aufgrund äusserlich sichtbarer Körpermerkmale zugewiesenen Geschlecht entspricht, ebenso wie die Erwartung, das «andere Geschlecht» zu begehren oder überhaupt einem von zwei Geschlechtern anzugehören[10]. Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot lässt sich so adäquat als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität fassen. Was bei dieser Konzeption von «Geschlecht» hingegen unterzugehen droht, ist die Abwertung von Frauen, weil sie Frauen sind: Frauen werden nicht nur dann benachteiligt, wenn sie aus traditionellen Geschlechtermustern ausbrechen und gegen gesellschaftliche Erwartungen verstossen, sondern gerade auch dann, wenn sie diese erfüllen. Im Anschluss an Baer wird hier deshalb direkt dort angesetzt, wo «Geschlecht» gesellschaftlich eine Rolle spielt: Dort, wo gesellschaftliche Dynamiken der Unterdrückung und des Ausschlusses bestehen, wo also Hierarchisierung stattfindet. Insofern ist die Geschlechterdifferenz Hierarchisierung[11]. Sexistisch ist beim antihierarchischen Ansatz Baers nicht nur die sexualisierende Abwertung von Frauen; vielmehr kann das Verbot der (hetero?)sexistischen Diskriminierung auch als Recht gegen ein normierendes Geschlecht verstanden werden, also als Recht, keiner Geschlechterordnung entsprechen zu müssen (zum Ganzen: Joller, S. 319 f., 325 ff.).

III. Die dogmatische Struktur des Verbots der (hetero?)sexistischen Diskriminierung

[14] Im Folgenden soll die dogmatische Struktur des Verbots der (hetero?)sexistischen Diskriminierung, wie sie sich aus den dargelegten Grundlagen ergibt, kurz skizziert werden.
  • Asymmetrische Struktur des Verbots der (hetero?)sexistischen Diskriminierung: Das postkategoriale Verständnis von Diskriminierung ist dezidiert asymmetrisch ausgerichtet. Dabei bezieht sich die Asymmetrie – anders als nach geläufigem Verständnis in der schweizerischen Lehre – nicht auf die Grundrechtsträgerschaft, sondern ist dem Begriff der Diskriminierung inhärent: Diskriminierung wird als Verstärkung oder Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Asymmetrie gesehen (vgl. Joller, S. 260). In bestimmten Konstellation können demnach auch Männer Ansprüche aus dem Verbot der sexistischen Diskriminierung ableiten. Solche Ansprüche ergeben sich allerdings nicht einfach aus der Anknüpfung an «Geschlecht» (zum Beispiel im Rahmen von Fördermassnahmen), sondern sind dann zu diskutieren, wenn Männer Nachteile erfahren, weil sie nicht der hegemonialen Männlichkeitsnorm entsprechen (z.B. als aktive Väter oder Schwule). Dies bedeutet nicht, dass Differenzierungen unproblematisch wären; die Problematik liegt aber nicht in der Differenzierung per se, sondern in deren Auswirkungen: Differenzierungen nach «Geschlecht» begünstigen das Denken in Geschlechterkategorien und damit auch die Perpetuierung der damit verbundenen Hierarchisierungen (vgl. Joller, S. 260 ff., 377 ff., 380 ff.). Differenzierungen sind demnach dann zulässig, wenn die Vorteile einer Differenzierung die Nachteile der Kategorisierung insgesamt überwiegen, wenn eine Massnahme also trotz der problematischen Kategorisierung  eine Reduktion tatsächlicher gesellschaftlicher Ungleichheit verspricht. Umgekehrt ist die Beseitigung bestehender rechtlicher Differenzierungen zulässig und geboten, wenn sie so umgesetzt wird, dass dadurch tatsächliche gesellschaftliche Ungleichheit nicht verstärkt wird.
  • Das Verbot der (hetero?)sexistischen Diskriminierung als Individualrecht: Das Verständnis von Art. 8 Abs. 2 und 3 BV als Verbot der (hetero?)sexistischen Diskriminierung ändert nichts am individualrechtlichen Charakter der Norm. Noch stärker als herkömmliche asymmetrische Konzeptionen des Diskriminierungsverbots ist es von Gruppenrechten im eigentlichen Sinne abzugrenzen: Nicht nur verleiht es individuelle, nicht kollektive Rechte; die Kategorisierung von Menschen in feststehende, klar abgrenzbare Gruppen – der Gruppe der Frauen, der trans Personen, der Homosexuellen etc. – wird als Grundlage von Diskriminierung problematisiert (vgl. Joller, S. 373).
  • Der Staat als Verpflichteter: Weiterhin verpflichtet das verfassungsrechtliche Verbot der Diskriminierung nicht direkt Private, sondern den Staat (verstanden sowohl in einem institutionellen wie auch in einem funktionellen Sinne). Es ändert sich aber die Analyse dessen, was staatliches «Handeln» beinhaltet. Im Anschluss an Baer «handelt» der Staat, soweit er wie auch immer soziale Asymmetrie verstärkt oder aufrechterhält. So verstandenes staatliches Handeln kann sowohl in Rechts- wie auch in Realakten, in aktivem Tun wie auch in Unterlassung, in der Regulierung wie auch in der Nicht-Regulierung bestimmter Sachverhalte, im Erlass wie auch in der Anwendung bestimmter Normen bestehen; überdies kann sich eine Diskriminierung nicht nur aus einer einzelnen Norm bzw. deren Anwendung ergeben, sondern auch aus einem ganzen System von Normen und Erlassen (oder gerade deren Fehlen; vgl. zum Ganzen Joller, S. 373 ff., 447 f.).
  • Benachteiligung statt Vergleich: Ob eine Diskriminierung vorliegt, wird nicht primär anhand eines Vergleichs zwischen der rechtlichen Behandlung unterschiedlicher Personen bzw. Personengruppen bestimmt, sondern anhand der Frage, ob gesellschaftliche Strukturen der Ungleichheit durch eine bestimmte rechtliche Behandlung verstärkt oder aufrechterhalten werden. Herkömmliche Prüfprogramme werden dadurch nicht obsolet; sie bieten in vielen Fällen weiterhin eine wertvolle Orientierungshilfe, um die Prüfung einer Diskriminierung zu strukturieren. Sie erfahren zum einen aber wichtige Präzisierungen bzw. Modifizierungen, und zum anderen sind sie nicht abschliessend zu verstehen (vgl. Joller, S. 375 ff.).
  • Schutzbereich: Das Gebot der Rechtsgleichheit von Art. 8 Abs. 1 BV verpflichtet den Staat in allgemeiner Weise zu gerechtem Handeln. Insofern weist das allgemeine Rechtsgleichheitsgebot von Art. 8 Abs. 1 BV keinen eigentlichen Schutzbereich auf; Art. 8 Abs. 1 BV verpflichtet den Staat ganz generell zu sachgerechter Differenzierung. Demgegenüber kann beim Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 und 3 BV insofern von einem Schutzbereich gesprochen werden, als es sich gegen bestimmte gesellschaftliche Ungleichheiten – im Falle des Verbots (hetero?)sexistischer Diskriminierung gegen die hierarchische Geschlechterordnung – richtet. Diese gesellschaftlichen Ungleichheiten äussern sich in typischen Benachteiligungen und Verletzungen. Im Falle der sexistischen Diskriminierung kann als typische Verletzung sexistische Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ*-Personen genannt werden. Charakteristisch für Sexismus ist ferner die Exklusion von Frauen aus bestimmten Lebensbereichen bzw. Positionen, die aus der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich und den entsprechenden geschlechtsspezifischen Zuweisungen resultieren, und die damit verbundene ökonomische Marginalisierung von Frauen. Beim Verbot der Diskriminierung kann insoweit zwischen der abwehrrechtlichen Dimension einerseits und Schutz- und Leistungspflichten andererseits unterschieden werden, als der Staat nicht nur verpflichtet ist, solche Verletzungen zu unterlassen (abwehrrechtliche Dimension), sondern auch, aktiv Massnahmen zu ergreifen, um Menschen vor Verletzungen, in denen sich die gesellschaftliche Hierarchisierung ausdrückt, zu schützen (Schutzpflichten), und um ein gewisses Mindestmass an distributiver Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gewährleisten (Leistungspflichten; siehe zum Ganzen Joller, S. 389 ff.).
  • Gleichheitsrechtlich begründete Schutzansprüche: (Hetero?)Sexismus bewirkt strukturell Exklusion und schlägt sich in sexistischer Gewalt nieder. Ausschlüsse und Gewalt können vom Staat ausgehen – dann ist die abwehrrechtliche Dimension des Diskriminierungsverbots betroffen –, vor allem aber sind sie systemisch in die Gesellschaft eingebettet. Der Schutz vor sexistischer Diskriminierung lässt sich deshalb nur dann verwirklichen, wenn der Staat zum Schutz vor typischen Verletzungen, in denen sich Sexismus ausdrückt, aktiv wird; schaut er einfach weg, kommt dies einer Aufrechterhaltung sexistischer Strukturen gleich. Dem Staat kommt mit anderen Worten eine Garantenfunktion zu. Aus dem Verbot der Diskriminierung lassen sich demnach Schutzansprüche ableiten. Gleichheitsrechtlich begründete Schutzansprüche sind insbesondere dort zu bejahen, wo es um den Schutz vor sexistischen Gewaltakten geht (vgl. Joller, S. 393 ff.).
  • Gleichheitsrechtlich begründete Leistungsansprüche: Des Weiteren vermittelt das Verbot der (hetero-)sexistischen Diskriminierung Leistungsansprüche gegenüber dem Staat. Dies dürfte im Grundsatz unbestritten sein, soweit es sich um derivative Leistungsrechte an bestehenden staatlichen Leistungen handelt: Bestehende staatliche Leistungen müssen diskriminierungsfrei gewährt werden. Darüber hinaus sind aber auch originär gleichheitsrechtlich begründete Leistungsansprüche zu diskutieren. Es handelt sich dabei um staatliche Leistungen, die notwendig sind, um strukturelle Diskriminierung zu beseitigen und ein gewisses Mindestmass an distributiver Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gewährleisten. Illustrieren lässt sich dies am Beispiel der Mutterschaftsentschädigung (vgl. Joller, S. 400 ff., 450).
Die Konzeption des Geschlechtsdiskriminierungsverbots als Verbot der sexistischen Diskriminierung soll – der historischen Intention entsprechend – dazu dienen, dass Art. 8 Abs. 2 und 3 BV als rechtliche Instrumente gegen strukturelle Ungleichheit nutzbar gemacht werden können.
 
 

[3] BBl 2024 2768.
 

[5] Vgl. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/gleichstellung-frau-mann/einkommen.html.

[6] Susanne BAER, Das Kategorienproblem und die Herausbildung eines postkategorialen Antidiskriminierungsbegriffs, in: Mangold/Payandeh (Hrsg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, Tübingen 2022, S. 223 ff., Rz. 88.

[7] Trans* bezeichnet hier alle Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Erfasst sind sowohl trans Frauen und Männer wie auch nicht binäre Personen.

[8] Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG; SR 151.1).

[9] Vgl. BGE 150 III 34.
 
[10] Laura ADAMIETZ, Geschlecht als Erwartung, Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, Diss. Berlin 2010, Baden-Baden 2011, S. 258.

[11] Susanne BAER, Würde oder Gleichheit, Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Diss. Frankfurt am Main 1995, Baden-Baden 1995, S. 208.