Vermutung der Verfolgung afghanischer Frauen

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Gender Law Newsletter FRI 2024#4, 01.12.2024 - Newsletter abonnieren

EU: ASYLRECHT (GASTBEITRAG)

Urteil des Gerichtshofs der europäischen Union vom 4. Oktober 2024, AH (C?608/22) und FN (C?609/22) gegen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl: Gastbeitrag von Rebecca Rohm

Es ist zurzeit in der EU nicht mehr erforderlich, bei der individuellen Prüfung der Situation der afghanischen Antragstellerinnen auf internationalen Schutz die Drohung tatsächlicher und spezifischer Verfolgungshandlungen in ihrem Herkunftsland bei einer Rückkehr festzustellen.

Am 4. Oktober 2024 hat der Gerichtshof der europäischen Union (EuGH) entschieden, dass aufgrund der diskriminierenden Regeln und Normen der Taliban allein die Eigenschaft als afghanische Frau ausreicht, um als verfolgt im Sinne des Asylrechts zu gelten. In Zeiten, in denen sich autoritär-konservative Tendenzen auch in Europa negativ auf das Asylrecht auswirken, ist dies eine wichtige rechtliche Beurteilung der Lage in Afghanistan. Im Einzelnen:

Das Urteil des EuGH erging im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV und hatte einen österreichischen Sachverhalt zur Grundlage. Zwei afghanische Frauen hatten gegen die behördliche Verweigerung des Asylstatus geklagt. Ihnen wurde stattdessen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, der nur zu einem befristeten Aufenthalt von zunächst einem Jahr berechtigt und damit einen schwächeren Schutz bietet. Da sich das österreichische Asylgesetz materiell an den Vorgaben der Richtlinie orientiert, war für die Entscheidung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs die Auslegung der Richtlinie durch den EuGH maßgeblich.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergeben sich aus der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations- oder Statusrichtlinie). Danach muss bei Rückkehr eine individuelle Verfolgung drohen. Gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a und b dieser Richtlinie ist dafür die Gefahr einer Verfolgungshandlung darzulegen. Art. 9 dieser Richtlinie konkretisiert Art. 1 A des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK). Danach muss eine Handlung aufgrund ihrer Art oder Wiederholung für sich genommen oder in Zusammenhang mit weiteren Maßnahmen eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen. Unter Heranziehung der einschlägigen Normen der GFK, des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) und des Übereinkommens vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) hat der EuGH die Vorschrift gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV ausgelegt. Dass sowohl die Istanbul-Konvention als auch das CEDAW bei der Auslegung der Unionsnormen zu berücksichtigen sind, hat der EuGH schon Anfang des Jahres klargestellt (Urteil des EuGH vom 16. Januar 2024 (C-621/21), WS gegen Bulgarien). Im Kern ging es nun um die Tatsachenwürdigung, ob allein die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der afghanischen Frauen aufgrund der Repressionen des Taliban-Regimes ausreicht oder ob eine darüberhinausgehende konkrete individuelle Verfolgungsgefahr nachgewiesen werden muss.

Der Gerichtshof entschied, dass bereits einzelne Taliban-Normen für sich genommen eine Verfolgung darstellen. Spätestens aber die Kumulierung frauendiskriminierender Maßnahmen, einschließlich drakonischer Strafandrohungen bei Nichtbefolgung, stelle eine Verfolgung im Sinne der Qualifikationsrichtlinie dar. In diesem Zusammenhang verwies er unter anderem auf das Fehlen jeglichen Rechtsschutzes gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt, Zwangsverheiratung sowie die Verweigerung der Teilhabe am politischen Leben. Aus Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention ergebe sich, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung als Verfolgung im Sinne der GFK anzuerkennen sei. Das Taliban-Regime unterdrücke und marginalisiere Frauen systematisch, so dass ein menschenwürdiges Leben für Frauen in Afghanistan nicht möglich sei. Obwohl also nach Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie grundsätzlich jeder Antrag auf internationalen Schutz individuell zu prüfen ist, stellt der EuGH angesichts der Situation in Afghanistan eine Vermutung für eine geschlechtsspezifische Verfolgung auf. Insofern muss zunächst nicht nachgewiesen werden, dass bei einer Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich und individuell Verfolgung droht, sofern Staatsangehörigkeit und Geschlecht nachgewiesen sind.

Die Auslegung des EuGH erinnert an die in der deutschen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Gruppenverfolgung. Dabei handelt es sich um eine Beweiserleichterung: Gehört der oder die Betroffene einer sozialen Gruppe an, deren Mitglieder als solche verfolgt werden, greift auch zu seinen oder ihren Gunsten die Regelvermutung einer eigenen, d.h. individuellen Verfolgung ein. Voraussetzung hierfür ist nach ständiger Rechtsprechung neben dem staatlichen Verfolgungsprogramm auch eine gewisse Dichte der Verfolgungshandlungen, vgl. Urteil des deutschen Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 2009 (10 C 11/08), Rn. 13.

Die Auslegung des EuGH ist für alle Mitgliedstaaten der EU bindend. Denn die Auslegung des Unionsrechts obliegt gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV dem EuGH. Die Verfolgungsvermutung für afghanische Frauen ist daher von den Behörden und Gerichten aller Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Eine individuelle Gefährdung bei Rückkehr ist damit nicht zu prüfen, da allen Angehörigen der Gruppe der afghanischen Frauen verfolgungsrelevante Maßnahmen drohen.

Direkter Zugang zum Urteil (jurispub.admin.ch)
Vgl. Newsletter 2024#2 zum Urteil des EuGH vom 16. Januar 2024, WS gegen Bulgarien (C-621/21)
Vgl. noch den Artikel von Ilaria Boiano (Le persecuzioni nei confronti delle donne e il sistema di protezione internazionale: quale Paese può dirsi “sicuro” per le donne?), zusammengefasst in unserem Newsletter 2023#2, und den in unserem Newsletter 2024#3 zusammengefassten Artikel von Claudia Candelmo (Nuovi orientamenti in tema di esame individuale delle domande di protezione internazionale? Il caso delle donne afghane al vaglio della CGUE)